Die Nachkommen des Sklavenschiffs Clotilda

Dokumentarfilm | USA 2022 | 109 Minuten

Regie: Margaret Brown

Dokumentarfilm über die Bergung des letzten US-amerikanischen Sklavenschiffs „Clotilda“, das noch Ende der 1850er-Jahre zum Transport versklavter Afrikaner in die USA diente. 1860 sank das Schiff nahe der Stadt Mobile im Bundesstaat Alabama. Als es 2019 geborgen wurde, ging damit auch die Frage einher, wie das Wrack und die Geschichte, für die es steht, aufgearbeitet werden sollen. Der vielschichtige Film nutzt die Geschichte des Schiffes zur Auseinandersetzung mit dem Rassismus in den USA. Die auf Affekte setzenden Stilmittel wie Zeitlupe und dramatische Musik irritieren mitunter zwar, schmälern aber nicht die nüchtern eingefangenen Begegnungen und Gespräche über Gewalt und Erinnerung. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DESCENDANT
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Higher Ground Prod./Participant/Two One Five Ent.
Regie
Margaret Brown
Kamera
Zac Manuel · Justin Zweifach
Schnitt
Michael Bloch · Geoffrey Richman
Länge
109 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm um Nachkommen des letzten US-amerikanischen Slavenschiffs.

Diskussion

Amerikas Geschichte wurde immer schon anhand von Schiffen erzählt. Christoph Kolumbus‘ Niña, Pinta und Santa Maria oder auch die Mayflower sind wichtige historische Bezugspunkte. Seekarten zeichnen die Reiserouten von Eroberern und „Entdeckern“ in den Ozean. Wo ihre Namen jedes Schulkind im Mund führt, bleiben andere anonym. Mehr als 40.000 Reisen wurden seit dem 16. Jahrhundert für den atlantischen Sklavenhandel angetreten, bis er 1808 offiziell verboten wurde. 12.000 Schiffe müssen dafür im Einsatz gewesen sein; doch namentlich dokumentiert sind gerade einmal fünf oder sechs davon. Nur das Meer kennt ihre Geschichten. Der Dokumentarfilm „Die Nachkommen des Sklavenschiffs Clotilda“ von Regisseurin Margaret Brown erzählt jedoch eine davon.

Die Clotilda war ein 27 Meter langer Zweimastschoner, der unter dem Kommando von Kapitän William Foster und im Auftrag von Werftbesitzer Timothy Meaher Ende der 1850er-Jahre als letztes historisch verbürgtes Sklavenschiff diente. Es sank 1860 nahe der Stadt Mobile im Bundesstaat Alabama. Bis heute leben in den umgebenden Gemeinden der Stadt die Nachfahren der ehemaligen Sklaven. Etwa in Pleateau (auch bekannt als Africa Town), 1860 von 32 Westafrikanern gegründet. Unter ihnen Cudjoe Lewis, der für Autorinnen wie Emma Langdon Roche oder Zora Neale Hurston als wichtiger Zeitzeuge diente.

Eine multimediale Collage

Der Dokumentarfilm hat einen zentralen Anlass. Nach Jahrzehnten der Suche wurden 2019 die Überreste des Schiffs Clotilda geborgen. Doch die Recherche der Regisseurin ist breiter angelegt und weiß um die Komplexitäten historischer Vermittlung. „Descendant“ – so der prägnantere Originaltitel des Films – ist eine multimediale Collage. Alte Filmaufnahmen zeigen Cudjoe Lewis, verwaschenes VHS-Material seine Nachfahren, HD-Kameras filmen Gemeinderatssitzungen, Pressekonferenzen und dramatische Lesungen von „Barracoon: The Story of the Last ‚Black Cargo‘“.

Etwas bemüht wirken die vielen pathetischen Zeitlupenaufnahmen von Pflanzen und Landschaften sowie die dramatischen Symbolbilder des Films. So blickt dann etwa Cudjoes Nachfahre Emmet Lewis aufs Meer, fast wie in einem Gemälde der Romantik. Die Bildsprache des Films gerät an eine Grenze, wo eine spirituelle Beziehung zwischen Vergangenheit und Zukunft aufgezeigt werden soll, wo Ahnenlinien als schicksalsträchtige Adern zwischen den Jahrhunderten gespannt werden. Hier wird auf einen Affekt gedrängt, der angesichts der inhärenten Dramatik der Tatsachen kaum mehr notwendig scheint.

Ein leichter Hauch von Utopie

Die emotionalen Momente des Films sind kleiner und subtiler. Einmal stehen sich ein Nachfahre von Kapitän Foster und ein Nachfahre eines Sklaven gegenüber. Sie geben sich die Hand, plaudern höflich und interessiert. Da ist kein Hass in den Blicken, stattdessen liegt ein leichter Hauch von Utopie in der Luft, der wie beiläufig aus einem Bild von zwei Menschen vor einer leeren Wand weht.

Man kann Brown und ihren Interviewpartnern nicht vorwerfen, keine originellen Fragen an die Ereignisse zu stellen. Der Film bemüht sich, nie vorschnell in die Triumphgesten eines liberalen Humanismus zu verfallen. Geschichte ist nicht einfach ewiger Fortschritt, sondern lebendig und formbar. Historische Gewalt dient auch als Spiegel der heutigen. So ist ein Abschnitt des Films der Zonierung von Wohngebieten um Mobile gewidmet. Die dort ansässige Schwerindustrie wird mit den stellenweise tödlichen Erkrankungen von Anwohnern in Verbindung gebracht. Eindrucksvolle Drohnenaufnahmen fangen die türmenden Schornsteine und Raffinerien ein, die ihre Schatten auf Wohnhäuser und Gemeindezentren werfen. Verantwortlich ist wahrscheinlich auch die Meaher-Familie, die immer noch große Landflächen in ihrem Besitz hat. Ein Aktivist beschreibt die „Konturen der Ungerechtigkeit“, die sich zwischen 1860 und 2018 kaum verändert hätten. Eine aufrichtige Auseinandersetzung mit dem Rassismus ist, so wird deutlich, nicht von materiellen Belangen zu entkoppeln.

Zwischen Aufarbeitung und Kommodifizierung

Eine faszinierende Passage widmet sich einer verwandten Frage: Wer kann und soll von der Entdeckung des Sklavenschiffs profitieren? Gedenkstätten und Museen ziehen Touristen an und spülen Geld in klamme Gemeindekassen. Wo verläuft die Grenze zwischen Aufarbeitung und Kommodifizierung? Und wie steht es um einen Film wie "Die Nachkommen des Skalvenschiffs Clotilda"? Wie sorgt man dafür, dass die Nachfahren der Opfer von der Verwertung profitieren? Die Frage nach Reparationen wurde in den letzten Jahren in den Vereinigten Staaten wieder verstärkt diskutiert und vor allem von Autoren wie Ta-Nehisi Coates mit einer neuen Vehemenz vorgetragen.

Brown arbeitet mit der Kamera eine offenkundige Diskrepanz heraus. Bei allen dokumentierten Veranstaltungen sitzen die Afroamerikaner vor allem im Publikum, während auf den Bühnen weiße Repräsentanten von Staaten und Organisationen sprechen. Sie sind stets gutwillig und um den richtigen Tonfall bemüht, werden aber von der Gemeinde kritisch beäugt. Mit subtilen Beobachtungen erzählt die Regisseurin von einem grundsätzlichen Unbehagen gegenüber der Macht. Nicht immer steht man gemeinsam vor einer leeren Wand; oft ist der Kontext relevant.

Taucher der Geschichte

Ein wenig fehlen dem Film dann jedoch die Zwischenglieder, die ein Themenfeld mit dem nächsten verknüpfen. Der Collagemodus kann zwangsläufig keine Ganzheitlichkeit erreichen, die die Form und vor allem die etwas nebulöse Musik ständig behaupten. Es wäre eine zentrale Aufgabe des Films gewesen, herauszuarbeiten, wie verschiedene Fragen zusammenhängen.

Sein schönstes, prägnantestes Bild findet „Die Nachkommen des Sklavenschiffs Clotilda“ erst fast am Ende. Der Taucher Kamau Sadiki, der an der Bergung des Schiffs beteiligt war, gibt den Kindern der Gemeinde Unterricht. Von einem wiederkehrenden Bild von Emmet Lewis, der Richtung Ozean blickt, wird auf einen örtlichen Swimming Pool geschnitten. Ewiges Blau, plötzlich domestiziert und beherrschbar. Hier werden die Jüngsten zu Tauchern der Geschichte. Sie lernen, sicher unter der Oberfläche zu gleiten, finden sich in einem neuen Element zurecht. Vor ihnen wird das Meer keine Geheimnisse haben.

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