Dokumentarfilm | Deutschland 2021 | 93 Minuten

Regie: Jens Meurer

Im ostenglischen Seebad Cromer wird jedes Jahr im Sommer die weltweit letzte „End of the Pier“-Show ausgerichtet, eine Mischung aus klassischem Varieté und musikalischer Revue. Auch 2019 ist dies der Fall, doch in diesem Jahr steht die Show unter der Herausforderung, sich mit dem anstehenden Brexit auseinandersetzen zu müssen. Der packende und humorvolle Dokumentarfilm porträtiert die Einwohner des Ortes wie auch zahlreiche der Show-Mitwirkenden und hält mit bewundernswerter Sicherheit die Stimmung zwischen Understatement und Galgenhumor. Passend zur Liebeserklärung an das klassische Entertainment und an die britische Lebensart sind die atmosphärischen 16mm-Filmbilder. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2021
Produktionsfirma
Instant Film
Regie
Jens Meurer
Buch
Jens Meurer
Kamera
Torsten Lippstock · Bernd Fischer
Musik
Steve Willaert
Schnitt
Matthieu Jamet
Länge
93 Minuten
Kinostart
19.01.2023
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Farbfilm/Lighthouse (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt. & engl.)
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Vielschichtiger und humorvoller Dokumentarfilm über das englische Seebad Cromer, in dem auch im Jahr des anstehenden Brexits 2019 die traditionelle Varieté-Revue-Show organisiert wird.

Diskussion

Nur langsam erwacht das Städtchen Cromer aus dem Winterschlaf, doch im Pavilion Theatre am Ende der Seebrücke laufen schon die Vorbereitungen für die kommende Saison. Die nächste „End of the Pier Show“ startet bald und ist bereits in Planung. Sie wird wieder den ganzen Sommer laufen, drei Monate lang, sechs Tage pro Woche mit jeweils zwei Aufführungen – Live-Unterhaltung für die ganze Familie. Das bedeutet ein gewaltiges Arbeitspensum für alle Beteiligten, vor allem für die Künstler und das Team hinter der Bühne. Die Regisseurin Di Cooke arbeitet nicht nur an der Besetzung, sondern auch an den Inhalten, wobei der Musikdirektor Nigel Hogg eine wichtige Rolle spielt, ebenso die Kostümbildnerin und der Kulissenbauer, die bereits erste Entwürfe liefern.

Diese Show, eine Mischung aus Varieté und musikalischer Revue, gibt es seit 40 Jahren, wie der deutsche Regisseur Jens Meurer in „Seaside Special“ vorführt. Sie ist weltweit die letzte ihre Art. Eine unübersehbare Schar von Menschen ist daran beteiligt, einige sind schon sehr lange dabei. Ganz Cromer ist stolz auf das Spektakel, und viele Einheimische arbeiten direkt oder indirekt mit. Da ist zum Beispiel Marlenes Tanzschule, wo das Kinderballett für die Show probt. Marlene führt die Tanzschule mit ihrem Mann, die drei Töchter sind Profi-Tänzerinnen, sie hatten ihre ersten Auftritte in der Revue, trainieren die Kinder und treten ebenfalls beim „Seaside Special“ auf.

Im Schatten des Brexit

In diesem Jahr 2019 gibt es allerdings eine besondere Herausforderung: Der drohende Brexit hat das Land gespalten, Freundschaften beendet und Familien getrennt. Sogar innerhalb der Produktion grummelt es. Selbstverständlich soll die Jubiläumsshow wieder witzig werden, aber prinzipiell ist man sich einig, dass der offenkundige Riss, der durch die Gesellschaft geht, nicht noch durch zusätzliche Provokationen zum Thema Brexit, egal in welcher Richtung, vergrößert werden soll. Sticheleien und Anspielungen sind aber absolut erwünscht. An der Europawahl im Mai 2019 nimmt auch Großbritannien teil, und während sich außerhalb des Theaters die Brexit-Gegner und -Befürworter noch einmal formieren und das britische Parlament ins Chaos trudelt, schreiten im Theater die Proben voran. Es wird Sommer, und die kleine Stadt füllt sich mit Touristen. Bald ist Premiere.

Jens Meurer hat seine Liebeserklärung an das klassische Entertainment und an die britische Lebensart in ein passendes Gewand gehüllt. Auf höchst amüsante und gleichzeitig niveauvolle Weise kombiniert er Altes und Neues, Konservatives und Progressives und hat auf 16mm-Filmmaterial gedreht. Das ist nicht nur eine Art Alleinstellungsmerkmal – wer macht das heute noch freiwillig? –, es spiegelt auch die Stimmung und die Atmosphäre des Films wider: die Gemütlichkeit und Gelassenheit in Cromer in seiner ganzen britisch-konservativen Tradition. Damit lädt Meurer auch zum Vergleich ein: digitale Schnelligkeit gegen die Langsamkeit der analogen Technik. Als künstlerische Entscheidung ist das in der Konsequenz von bestechender Logik. Der Aufwand, die Komplexität und die Authentizität der gesamten Dokumentation finden sich auf diese Weise auch in der Verwendung des aus der Mode gekommenen Filmmaterials wieder.

Aus der Mode gekommene Unterhaltung

Prinzipiell geht es hier um eine Form der Unterhaltung, die ebenfalls aus der Mode gekommen ist: das klassische Varieté mit einzelnen Shownummern. Zauberkünstler, Jongleure, Artistinnen gehören dazu, traditionell eine Sopranistin und ein Tenor, ein Corps de Ballet, dessen Mitglieder genauso gut singen wie tanzen können, und natürlich ein Moderator – der Host, der mit Witz und Charme durchs Programm führt. Sie alle sind Hauptpersonen in diesem abwechslungsreichen Film, der sie durch die Saison begleitet und ihnen Platz lässt, über sich und ihre Arbeit, ihre Träume und Ängste zu sprechen.

Zusätzlich kommen Gäste und Bewohner von Cromer zu Wort, darunter jede Menge originelle Charaktere mit einem kleineren oder größeren Spleen, die mit der Stadt und „Seaside Special“ in enger Verbindung stehen: einer der letzten Fischer, der sich als absoluter Hardcore-Brexit-Befürworter entpuppt, oder Olly Day, der nur in Cromer „weltberühmte“ Zauberer und Komiker, der auch durch den Film führt. Oder die beiden leicht durchgeknallten tanzenden Zwillingsschwestern Polly und Sophie, die sich sofort auf eine „Never-ending-fuck-Brexit-Tour“ begeben würden. Das Fahrzeug dafür haben sie schon. Aber leider hat ihr Wohnmobil zwar Linkslenkung, aber keinen Motor.

Es gibt viel zu lachen in diesem Film, denn trotz der durchaus ernsthaften Themen, die hier angesprochen werden, vom Brexit bis zum entbehrungsreichen Künstlerleben, hält der Film eine Stimmung, die sehr viel Einfühlungsvermögen in die britische Sichtweise aufs Leben verrät. Understatement ist dabei, aber auch immer ein wenig tiefschwarz gefärbter Galgenhumor. Das alles wird von einem genialen Soundtrack unterstützt, den die Fabulous Steve Willaert Brass Band liefert und mit einem Hauch von Monty Python und ein wenig Kurkonzertatmosphäre zusätzlich für gute Laune sorgt.

England in jeder Beziehung

Das Städtchen Cromer, das nur in den Sommermonaten von meist britischen Touristen bevölkert wird, spielt ebenfalls eine wichtige Rolle, mit seinen schmalen Gassen, den Pubs und Shops, mit seiner unverzichtbaren Promenade und dem breiten Sandstrand. Hier leben und arbeiten Menschen, die in ihrer Originalität den Klischees von England in jeder Beziehung sowohl ent- als auch widersprechen. Dazu je nach Jahreszeit und Wetter die Bilder vom Pavilion Theatre über dem Meer: ein prächtiger viktorianischer Bau am Ende eines langen Piers, der in die Nordsee führt. Und irgendwann steht ein Regenbogen über dem Theater.

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