Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 86 Minuten

Regie: Volker Sattel

Essayistischer Dokumentarfilm, der sich dem apulischen Fluss Tara widmet, dessen Wasser heilende Kräfte zugeschrieben werden, sowie einem umweltschädlichen Stahlwerk in der nahegelegenen Stadt Taranto. Aus Erzählfragmenten von Bewohnern und Aufnahmen aus der seit der Antike existierenden Stadt entsteht ein kaleidoskopartiges Bild, in das Mythen ebenso einfließen wie Archäologie, Wissenschaft, Architektur und Politik. Ein schön fotografierter, bewusst vielstimmiger und offen gehaltener Film, der manchmal jedoch zu viel Wissen voraussetzt und bei seinen Beobachtungen mitunter etwas willkürlich wirkt. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Volker Sattel Prod.
Regie
Volker Sattel · Francesca Bertin
Buch
Volker Sattel
Kamera
Volker Sattel
Schnitt
Bettina Blickwede
Länge
86 Minuten
Kinostart
19.01.2023
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm

Essayistische Doku über den apulischen Fluss Tara und Menschen, die im Umfeld der seit der Antike existierenden Stadt Taranto leben.

Diskussion

In der Ära Mussolini soll ein Bauer seinen alten, kranken Esel verstoßen haben. Nachdem er das Tier in den Fluss Tara schubste, kehrte das Tier jedoch nach einer Weile frisch und gestärkt wieder zurück. Eine Frau erklärt mit dieser Geschichte, woher der Spitzname „Eselfluss“ stammt und warum das Baden hier so besonders ist. Es ist ein sommerlicher Tag in der süditalienischen Region Apulien. Während die Jungen in den schilfumwachsenen Buchten plantschen, bestärken sich die Alten in ihrem Mythos vom heilenden Wasser.

Warum die Einheimischen diese Utopie so energisch verteidigen, wird verständlicher, wenn man sich ein paar Kilometer weiterbewegt. Die über 3000 Jahre alte Stadt Taranto verfügt nicht nur über einen großen Handelshafen, sondern auch über mehrere Fabriken. Eine Busfahrt bietet dem Dokumentarfilm „Tara“ die Gelegenheit, die Zerrissenheit der Gegend aufzuzeigen. Während die Aussicht auf der einen Seite von rauchenden Kaminen bestimmt ist, befindet sich auf der anderen Seite fast nur unberührte Natur.

Das größte Stahlwerk Europas

Die deutlichsten Spuren in Taranto hat „Ilva“, das größte Stahlwerk Europas, hinterlassen. Nicht nur der Umwelt hat es immens geschadet, sondern auch viele Arbeiter krank gemacht. Die Regisseure Volker Sattel und Francesca Bertin stellen eine Gutsbesitzerin vor, deren malerisches Anwesen sich neben der Schutthalde des Konzerns befindet und die deshalb gerichtlich gegen ihn vorgeht. Ihr Aktivismus ist in „Tara“ jedoch die Ausnahme. Der Film erzählt allerdings weniger von der Bekämpfung eines Unrechts als vielmehr von den Einheimischen, deren Leben auf irgendeine, manchmal auch nur indirekte Weise von der Fabrik beeinflusst wird. Wie die zwei ehemaligen Ilva-Arbeiter, die sich mit einem bodenständigen Restaurant selbständig machen wollen und so für eine bessere Zukunft kämpfen.

Statt sich an einem Thema abzuarbeiten, widmet sich „Tara“ der Region und ihren Bewohnern aus immer neuen Perspektiven. Mythen spielen dabei ebenso eine Rolle wie Geschichte, Archäologie, Wissenschaft, Politik und Architektur. Mal begleitet man Mitarbeiter der Stadt, die Wasserproben aus der Tara nehmen, mal hängt man mit Kindern in der abgelegenen Wohnsiedlung „Weiße Häuser“ herum; oft unternimmt die Kamera einfach auch nur Streifzüge durch die Stadt, vorbei an mittelalterlichen Gebäuden, heruntergekommenen Wohnhäusern und menschenfeindlichen Neubauten.

Bei diesen mäandernden Erzählbewegungen nimmt einen die Co-Regisseurin Bertin gelegentlich auch an die Hand, der die Kamera beim Flanieren folgt. Sie spricht mit den Bewohnern, hört jedoch eher zu, als dass sie in die Rolle einer Journalistin schlüpft. Mit ihrem langen weißen Kleid wirkt sie teilweise so entrückt wie eine mythische oder allegorische Figur.

Ein bewusst offen gehaltener Film

An anderer Stelle verzichtet „Tara“ auf jegliche Hintergrundinformationen, was es mitunter schwer macht, das Gesehene einzuordnen. Bis auf einen Schwatz mit einer Freundin über die Modernisierung der Stadt bleiben insbesondere die architektonischen Beobachtungen häufig unkommentiert.

Vieles scheint auch bewusst offen gehalten zu sein, etwa ob der Mann, der hier irgendwann mit seinem Esel auftaucht, ein Bewohner ist oder Teil einer Inszenierung, die mit dem mythischen Erbe des Ortes spielt. Motive wie der Katholizismus, die traditionelle Männlichkeit oder die prekären Lebensbedingungen kehren mehrmals wieder, werden aber nicht für eine Erzählung instrumentalisiert. Denn „Tara“ versucht sich zwar dem zu nähern, was die Stadt und ihre Bewohner ausmacht, will es zugleich aber nie zu konkret werden lassen.

Diese Zersplitterung führt immer wieder dazu, dass die einzelnen Teile auseinanderzufallen drohen. Auf der anderen Seite entstehen durch die mehrschichtige Erzählweise aber auch wieder interessante Parallelen und Widersprüche. Dazu zählen etwa die Aufnahmen aus dem Fluss, die mit tänzelnden Algen und blubbernden Quellen ein unwirkliches Unterwasserreich heraufbeschwören. Ähnlich staunend ist der Blick in den alten Industriefilmen, die hier zu sehen sind. In der funkenschlagenden Anmut der Stahlproduktion scheint sich die damalige Sehnsucht nach Fortschritt und Wohlstand zu spiegeln. Ein optimistischeres Bild dafür, wie sich Schönheit in der Zerstörung offenbaren kann, findet „Tara“ in den „Weißen Häusern“. Hier ist es ein alter Mann in einer engen Garage voller Müll, der aus weggeworfenen Plastikflaschen eine hübsche Blume bastelt.

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