Heimweh - Kindheit zwischen den Fronten

Dokumentarfilm | Dänemark/Ukraine/Schweden 2022 | 87 Minuten

Regie: Simon Lereng Wilmont

Seit Beginn der kriegerischen Auseinandersetzungen 2014 zwischen pro-russischen Separatisten und ukrainischen Truppen in der Ostukraine befindet sich das Kinderheim Priyut in der Region Luhansk in einer gefährlichen Lage unweit der Frontlinie. Ein Dokumentarfilm verfolgt zwei Jahre lang, wie Kindern aus zerrütteten und kriegsversehrten Familien dank der bewundernswerten Arbeit der Betreuerinnen dort Fürsorge und Geborgenheit erfahren. Trotz einiger inszeniert wirkender Szenen gelingt ein profunder Einblick in das Leben im Heim und in gesellschaftliche Probleme, während die Kinder und ihre Schicksale rasch ans Herz wachsen. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
A HOUSE MADE OF SPLINTERS
Produktionsland
Dänemark/Ukraine/Schweden
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Final Cut for Real
Regie
Simon Lereng Wilmont
Buch
Simon Lereng Wilmont
Kamera
Simon Lereng Wilmont
Musik
Uno Helmersson
Schnitt
Michael Aaglund
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Doku über das Kinderheim Priyut in der ostukrainischen Donbas-Region nahe der Frontlinie, in dem sich die Mitarbeiterinnen mit viel Hingabe um vernachlässigte oder verwaiste Kinder kümmern.

Diskussion

Eva telefoniert mit ihrer Großmutter und erfährt von ihr, dass ihre Mutter wieder trinkt. Als die Mutter des Mädchens dann doch einmal den Telefonhörer abnimmt, denkt man, Mutter und Kind hätten die Rollen getauscht, angesichts des Schwalls an weinerlichen Bitten, die die Ältere vorträgt. Sie könne nicht allein sein, habe einen jüngeren Freund gefunden und könne Eva deshalb nicht sehen.

Eva ist eines von Dutzenden Kindern, die vorübergehend in dem Kinderheim Priyut untergebracht werden. In dem Betonbau sozialistischer Prägung wurde schon lange nichts mehr renoviert. Außen bröckeln die Fassaden und innen verblassen die Wandgemälde. Dafür kümmern sich die engagierten Mitarbeiterinnen mit viel Kompetenz und Empathie um ihre Schützlinge. Denn die Kinder, die hierherkommen, stammen zumeist aus zerrütteten Familien. Für sie spielt es kaum eine Rolle, dass draußen im Donbas seit 2014 kriegerische Auseinandersetzungen toben. Sie leiden darunter, dass sie kaum Liebe erfahren. Wenn Väter zu Hause zugegen oder überhaupt vorhanden sind, verprügeln sie ihre Lebensgefährtinnen und ihren Nachwuchs, und auch die Mütter hängen häufig an der Flasche.

Die Dreharbeiten für den Dokumentarfilm „Heimweh – Kindheit zwischen den Fronten“ dauerten mehr als zwei Jahre. Er entstand in Lyssytschansk im Norden der Oblast Luhansk unter der Regie von Simon Lereng Wilmont. Eine Erzählerin führt durch den Film und schildert zu Bildern von Plattenbauten, einem Kriegsdenkmal und einem Tagebau, dass jede zehnte Familie von Arbeitslosigkeit, Gewalt, Alkoholproblemen und Obdachlosigkeit betroffen sei.

Kein Kind bleibt länger als neun Monate

Länger als neun Monate dürfen die Kinder nicht in Priyut bleiben. So lange dauert ungefähr ein Gerichtsverfahren, das darüber befindet, ob den Eltern das Sorgerecht aberkannt wird und ob die Kinder zu Verwandten, in eine Pflegefamilie, ins Internat oder ins Waisenhaus kommen. In dieser Zeit kümmern sich die Erzieherinnen um ihre jungen Insassen. Stolz berichten sie, dass die Kinder ein warmes Bett, sechs Mahlzeiten und Schulunterricht bekämen. Sie können sich tatsächlich etwas darauf einbilden, den Kindern einen geregelten Tagesablauf und Geborgenheit zu bieten. Der Tag fängt mit Morgengymnastik an, wobei vor allem größere, vorpubertäre Mädchen sich kompetent in Tanzübungen zeigen, während die Kleinen bewundernd zugucken.

Wenn ein Kind gehen muss, rückt ein anderes nach. Dann gewöhnt es sich ein und knüpft neue (vorübergehende) Freundschaften. Die Kamera rückt zuweilen sehr dicht an die Kinder heran und hält die Emotionen fest, die sich auf ihren Gesichtern spiegeln. Zuweilen reagieren die Kinder auf Zurückweisung sehr heftig. Manchmal sind sie selbst gemein – und sehnen sich doch mehr als andere Kinder nach Liebe und Anerkennung.

Es sind Kinder, die viel erlebt haben, zum Teil desillusioniert sind und mehr Menschenkenntnis und Reife mitbringen als Gleichaltrige aus geordneten Verhältnissen. Da sie kaum Vorbilder erlebt haben, sind einige schon ins Visier der Polizei geraten, weil sie getürmt sind, gestohlen haben oder die Schule schwänzen. Das Mädchen Sascha etwa wurde von ihrer alkoholkranken Mutter tagelang allein gelassen und musste selbst für sich kochen, bevor Sozialarbeiter sie ins Heim brachten.

Das Schicksal des elfjährigen Kolja nimmt besonders mit. Er wurde bereits zweimal in Priyut eingewiesen, denn seine Mutter kümmert sich kaum um ihn und seine kleinen Geschwister Shenja und Kristina. Wenn sie sich doch einmal zu Besuch im Heim blicken lässt, ermahnt sie ihren Sohn, sich „wie ein Mann“ zu benehmen, nicht zu weinen und sich um Bruder und Schwester zu kümmern. Das tut Kolja auch rührend, doch er treibt sich auch mit älteren Jungen herum, raucht und trinkt mit ihnen oder tätowiert sich die Unterarme mit einschlägigen Symbolen russischer Gangs. Es kommt auch vor, dass Polizisten ihn nach einem unerlaubten Ausflug zurück nach Priyut bringen.

Das Kinderheim kann nicht alles leisten

Das Kinderheim kann neben der juristischen und behördlichen Schreibtisch- sowie der Betreuungsarbeit nicht alles leisten. So reden die Betreuerinnen Kolja ins Gewissen, doch oft wiegelt er ab und markiert den starken Mann, weil er es nicht anders kennt. Wenn es dann hart auf hart kommt – am Ende muss auch Kolja ins Internat –, reagiert er wie das schutzlose und sensible Kind, das er in Wirklichkeit ist, und muss weinen.

Bemängeln kann man an dem auch für den „Oscar“ nominierten Dokumentarfilm, dass die Filmemacher sich zuweilen mit den kleinen Halbstarken gemeinmachen und sie beim Rauchen oder bei Unsinn filmen. Zwar führen die Kinder solche Handlungen tatsächlich aus, doch hier wirken sie inszeniert. Außerdem: Wem nützt eine vermeintliche Authentizität, wenn es das Fehlverhalten der Kinder, das diese nur bedingt reflektieren können, für Unterhaltungszwecke aufwertet? Später, so die Betreuerinnen, kämen einige dieser Kinder als Erwachsene wieder und gäben ihrerseits ihre Kinder ab, weil sie das Verhalten ihrer eigenen Eltern reproduziert haben.

Mitunter sind die Nöte der Kinder für die Zuschauer schwer zu ertragen. Auf der anderen Seite bewundert man ihre Anpassungsgabe und ihren Mut, mit ihrer widrigen Lage umzugehen, aber auch ihre Lebensfreude, die durchaus vorhanden ist, sowie ihre Fähigkeit, auch schlimme Erlebnisse zu schildern oder spielerisch zu verarbeiten.

Ein Nachspiel

Die bitterste Note kommt zum Schluss, denn der Film hat ein Nachspiel: Nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Februar 2022 hat sich für die jungen Bewohner des Heims die Lage noch einmal verschärft. Sie sind in den Westen des Landes evakuiert worden; ihre Zukunft und Sicherheit sind mehr als ungewiss in Zeiten, wo die gesamte Ukraine zum Kriegsgebiet geworden ist.

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