Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 90 Minuten

Regie: Christoph Weinert

Dokumentarfilm über die betagten Nachkommen der Großfamilie Flemming, die nach Jahrzehnten an ihren Geburtsort in Hinterpommern zurückkehren und sich an ihre Kindheit auf dem Bauernhof und ihr Leben nach der Vertreibung erinnern. In langen Interviewszenen rekapituliert der stille Film die Lebensgeschichten der sympathisch-rüstigen Senioren, die sich untereinander noch immer ungewöhnlich intensiv zugewandt sind. Dabei erfährt man auch einiges über die Zeitläufte und das Schicksal einer während der NS-Zeit heranwachsenden Generation, wenngleich es mehr um eine filmische Autobiografie der Flemmings geht. - Ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Flemming Postprod.
Regie
Christoph Weinert
Buch
Christoph Weinert
Kamera
Jürgen Heck
Musik
Achim Gieseler
Schnitt
Klaus Flemming
Länge
90 Minuten
Kinostart
09.02.2023
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Dokumentarisches Porträt
Externe Links
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Doku über die betagten Nachkommen der Großfamilie Flemming, die sich an ihrem Geburtsort in Hinterpommern an ihre Kindheit und ihr Leben nach der Vertreibung erinnern.

Diskussion

Die Flemmings sind einander herzlich zugetan. Auch nach bald acht Jahrzehnten spürt man eine innige Verbundenheit zwischen den betagten Geschwistern, wenn sie im Kleinbus aufgekratzt-fröhlich nach Polen fahren. Dorthin, wo sie zwischen 1933 und 1943 geboren wurden, nach Flemmingsort, das heute Zalezie heißt und in der Woiwodschaft Pommern liegt. Dass sie zusammengehören, sieht man auf den ersten Blick; die sechs Brüder haben die schlanke Gestalt und wohl auch den Habitus von ihrem Vater geerbt, die beiden Schwestern kommen eher nach der Mutter. Obwohl auch der Jüngste schon stramm auf die 80 zugeht, sind das Alter und die mit ihm verbundenen Einschränkungen kein Thema; der Tod wird zwar nicht verdrängt, doch jetzt gerade hüpfen sie alle aus dem Auto und laufen aufgeregt über das Gelände, wo früher ihr Bauernhof stand. Hier war der Kuhstall, dort stand die Scheune und das Elternhaus und die Kammer, in der alle zur Welt kamen.

Auch wenn kaum mehr als Grundmauern oder bestenfalls eine Trittschwelle zu erkennen sind, wirbelt die Erinnerung viele versunkene Momente auf, die das Geschwistertreffen so bewegend machen. Der Dokumentarfilm von Christoph Weinert hilft den Betagten auf seine Weise, ihre Erinnerungen zu sortieren; zumindest reiht er die acht im Halbrund auf und lässt sie chronologisch auf ihre Zeit in Flemmingsort zurückblicken. In warmen CinemaScope-Bildern begegnet man so Arno, Ewald, Johannes, Anita, Heinz, Waldemar, Edith und Werner und lauscht ihren Erzählungen aus einer Zeit, in der nachts jede Ecke ihre Geheimnisse hatte oder man die nackten Füße in weichen Kuhfladen wärmte, wenn der Regen sie ausgekühlt hatte.

Kalte Kirschsuppe mit Stampfkartoffel

In den von zumeist illustrativ verwendetem Archivmaterial unterfütterten Anekdoten erfährt man viel über eine aufregende Kindheit abseits der Zeitläufte, inmitten einer Selbstversorger-Welt ohne Idylle, aber voller Handarbeit, in der während der Ernte das Essen auf die Felder gebracht wurde, kalte Kirschensuppe mit Stampfkartoffeln und Spiegelei, oder man sich in bitterkalten Winternächten so eng aneinanderschmiegte, dass sich das Gefühl heimeliger Geborgenheit auch heute noch sofort einstellt. Manches ist kurios wie die Geschichte einer verschwundenen Sandale, die Jahr für Jahr an den Nächstjüngeren vererbt werden sollte; anderes befremdlich wie die Schilderung vom Ende der Weihnachtsgänse, deren Blut aufgefangen und zu „Schwarzsauer“ verarbeitet wurde.

Der Krieg blieb lange außen vor, das Dorf gehörte zur katholischen Diaspora und galt als besonders fromm; die Nazis konnten deshalb nicht Fuß fassen. Der Vater musste 1939 zwar den Polenfeldzug mitmachen, wurde dann aber „unabkömmlich“ gestellt und später durch einen russischen Zwangsarbeiter vor der Erschießung durch die Rote Armee bewahrt, weil er gut behandelt worden war.

Die Kriegsgefangenschaft in Sibirien überlebte der Vater wie durch ein Wunder, doch das gehört zum anderen Teil der Flemming’schen Lebenserinnerungen, in denen die Familie von ihrem Hof vertrieben wurde, in der sowjetischen Besatzungszone bei Bischofferode strandete und von den neuen Verhältnissen bald so desillusioniert war, dass ein Kind nach dem anderen sich in den Westen absetzte. Erst 1982 sahen sich alle anlässlich der Goldenen Hochzeit der Eltern in Bischofferode wieder, weil die Ostverträge zwischen den beiden deutschen Staaten solche Familienfeiern wieder möglich machten.

Obwohl der Film den Nachkriegsjahrzehnten durchaus Raum gibt und man von der ein oder anderen spannenden Wendung im Lebenslauf der acht Protagonisten erfährt, lässt die Intensität der filmischen Rekonstruktion deutlich nach, ohne dass dies sonderlich stören würde, weil es in „Acht Geschwister“ primär nicht um die Chronologie einer Familiengeschichte, sondern um das Geheimnis einer ungewöhnlichen Geschwisterbeziehung geht. Außenstehende haben den starken Zusammenhalt der Kinder immer wieder bemerkt und über die Friedfertigkeit der Flemmings im Umgang untereinander gestaunt.

Im Dienst des familiären Narrativs

Arno, der Erstgeborene, erklärt sich dies einmal so: „Wir haben einander nie etwas geneidet, sondern uns auch über die Erfolge der anderen gefreut.“ Auch andere Geschwister streuen ab und an ein paar Sätze ein, die ihr bleibendes Miteinander beleuchten, ohne allzu tief zu schürfen; es kommt ihnen ja weniger auf die Erklärung als vielmehr auf die gelebte Wirklichkeit an, was die Gruppenfotos über die Jahre hinweg spektakulär illustrieren.

Allerdings macht sich auch der Film diese Haltung zu eigen, was ihm nicht anzukreiden ist, weil er sich in seiner stillen, konzentrierten Art in den Dienst des familiären Flemming-Narrativs stellt und es sinnlich-plastisch mit Leben füllt. Aber es begrenzt seine Aussagekraft, weil er die Erzählungen und Selbstdeutungen weder historisch noch gesellschaftlich sonderlich kontextualisiert. Die zeitgenössischen Bilder und Filmausschnitte unterstreichen zumeist nur die Erinnerungen, ohne eine übergreifende, deutende oder korrigierende Ebene zu installieren; Kamera und Montage fügen sich gleichfalls ins Konzept einer familiären Autobiografie.

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