Dokumentarfilm | Polen/Deutschland 2023 | 82 Minuten

Regie: Piotr Pawlus

Die polnischen Dokumentarfilmer Tomasz Wolski und Piotr Pawlus reisen durch die Ukraine und halten akribisch fest, welche Schäden der Krieg angerichtet hat. Die russische Aggression verwüstete Städte, Dörfer und die Infrastruktur. Menschen wurden vertrieben oder in einen permanenten Ausnahmezustand versetzt. In meist statischen Einstellungen beobachtet der Film, wie Erwachsene und Kinder mit der Not umgehen, sich gegenseitig helfen oder helfen lassen. Ein erschütterndes Dokument aus einem versehrten Land. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
W UKRAINIE
Produktionsland
Polen/Deutschland
Produktionsjahr
2023
Produktionsfirma
Kijora Film/Indi Film
Regie
Piotr Pawlus · Tomasz Wolski
Buch
Piotr Pawlus · Tomasz Wolski
Kamera
Piotr Pawlus
Schnitt
Tomasz Wolski
Länge
82 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarische Beobachtungen aus den vom Krieg zerstörten Städte und Dörfer der Ukraine.

Diskussion

Seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine vergeht kein Tag, an dem die Medien nicht über das Kriegsgeschehen berichten, Präsident Selenskyj einblenden, Prognosen über den Kriegsverlauf erstellen oder versehrte oder flüchtende Zivilisten zeigen. Auch Reportagen und Filme wurden bereits gedreht. Ukrainische Filmschaffende wie Oleg Sentsov meldeten sich als Freiwillige für die Armee, der litauische Regisseur Mantas Kvedaravicius wurde bei den Dreharbeiten zu seinem Film „Mariupolis 2“ sogar vom russischen Militär getötet. Die beiden polnischen Regisseure Piotr Pawlus und Tomasz Wolski optieren für eine andere Herangehensweise. Sie begeben sich in ihrem Dokumentarfilm über die Ukraine im Kriegszustand nicht direkt an die Front, sondern filmen, was der Krieg im Land angerichtet hat und wie die Menschen versuchen, mit Zerstörung, Chaos und Verlust umzugehen.

Bilder aus einer versehrten Welt

Der Film beginnt mit Bildern eines warmen, sonnigen Tages. Eine vierköpfige Familie steigt aus dem Auto und posiert vor Panzern, die wie ausgestellt an einer Straße stehen. Ihr Handeln hat etwas Unschuldiges, Verspieltes; man kann sich vorstellen, dass sie die Bilder danach in den Sozialen Medien posten. Dann folgt ein Kontrastprogramm mit Szenen, welche die Ausnahmesituation des Landes in verschiedenen Situationen und Orten immer drastischer illustrieren. An einer Straßensperre kontrollieren Bewaffnete zu nächtlicher Stunde die Papiere. Die Autoinsassen sollen zudem ein ukrainisches Wort wiederholen. In einer bunten Neubausiedlung, deren Häuser zum Teil noch nicht fertig gebaut sind, sieht man bei Tageslicht die Spuren von Raketeneinschlägen. Auf Straßen stehen Panzersperren in Form von weißen Kreuzen. Anderswo helfen Menschen anderen, sich zu versorgen. Eine Frau verteilt offenbar selbstgemachten Rohkostsalat an Bedürftige, die mit Plastikbehältern und Töpfen in einer Schlange stehen.

Die Zerstörungen müssen notdürftig behoben werden. Handwerker schneiden nach genauen Maßen Sperrholzplatten zurecht, die als Fensterscheibenersatz dienen sollen. Einige Abnehmer beschweren sich, dass sie schon stundenlang warteten. Später sieht man Handwerker in einem etwas baufälligen Außenlift für Fensterputzer die Platten einsetzen und festnageln.

Das Leben geht weiter

Auch nach Raketen- oder Bombeneinschlag geht das Leben weiter: Kinder schaukeln vor ausgebrannten und ausgebombten Hochhaussiedlungen. Dieses Motiv erscheint öfter. Später schaukeln andernorts keine Kinder mehr. Wohnsiedlungen, die extra so gebaut wurden, dass Eltern ihre Kinder vom Haus aus auf den Spielplätzen sehen könnten, verwaist. In einer ländlichen Gegend der Ukraine imitieren andere Kinder ihre erwachsenen Vorbilder und spielen Krieg. Dabei sind sie mit Schutzwesten und täuschend echt aussehenden Spielzeugpistolen ausgestattet. Ein kleiner Junge setzt für sein Kriegsspiel auf einem kleinen Bauernhof mehr auf Fantasie und hat eine Art Abflussrohr zu einem Maschinengewehr umfunktioniert.

Die Kamera bewegt sich offenbar ostwärts. Sie hält in verschiedenen Szenerien die Menschen darin fest, ohne dass es einen Kommentar gäbe oder Erklärungen oder andere Hilfestellungen gegeben würden. Doch viele Bilder sind selbsterklärend. Etwa eine Bushaltestelle, die durch ein Einschussloch gefilmt wird, oder Menschen, die nach dem Ertönen einer Sirene an einer Straßenbahn-Insel in unterirdische Gefilde flüchten. Anderes kann man sich durch Indizien erschließen. Menschen campieren in den Fluren einer Metro-Station und haben dort provisorische Schlafstätten und Suppenküchen eingerichtet. Wenn man auf den Hinweisschildern die Inschrift „Majdan“ entdeckt, weiß man, dass die Metro in der Hauptstadt Kyiv angesiedelt ist.

Viele Szenen haben etwas fast Beiläufiges und dokumentieren, wie rasch Menschen in der Not sich mit Provisorien behelfen und den widrigen Verhältnissen fügen. Das sowjetische Erbe ist sowohl in den Neubausiedlungen zu erkennen als auch in Straßennamen wie „Straße der Völkerfreundschaft“, deren Benennung nun einen bitteren Beigeschmack hat.

Die Verwüstungen des Krieges

Die Bedürftigkeit der Menschen ist offensichtlich. Internationale Hilfsorganisationen wie die „World Central Kitchen“ versorgen Menschen mit Essen. In einer anderen Situation äußert sich die Not in Verteilungskämpfen im Kleinen, wenn Menschen wegen angeblicher Gier ermahnt werden oder in Streit geraten, weil sie Päckchen mit Babynahrung für ihre Angehörigen oder Verwandten ergattern wollen und sich zuweilen auch doppelt bedienen. So kontrastieren Bilder offensichtlicher Solidarität mit solchen, wo Menschen nach Monaten voller Stress, Angst und Entbehrung auch einmal die Nerven verlieren.

Direkt vor der Kamera äußert sich niemand. So zeigen nur die Bilder, welche Verwüstungen der Krieg angerichtet hat und immer noch anrichtet.

Was für Traumata die Menschen tatsächlich erlitten haben, maßt sich der Film nicht an zu eruieren. Er steht ganz im Zeichen seines fast lapidaren Titels, setzt einiges Wissen voraus und illustriert nicht mehr, als er verspricht. Dazu braucht er außer längeren und oft statischen Totalen keine weiteren stilistischen Mittel, um das Ungeheuerliche, das für die Menschen in diesem Land seit einem Jahr Alltag ist, in seinen unterschiedlichen Facetten festzuhalten.

Im Wechsel der Jahreszeiten zeigen die Filmemacher ein versehrtes Land – im Winter muss ein Fluss, dessen Brücke zerstört wurde, inmitten von Eisschollen mit Booten überquert werden. Einmal sieht man auch echte Kämpfer, unter die sich der Co-Regisseur Piotr Pawlus, der auch als Kameramann fungiert, offensichtlich begeben hat. Man hört eine polnische Danksagung für ein Getränk, während im Hintergrund, nur wenige Hundert Meter entfernt, Raketen einschlagen.

Eine Ukrainie in Ruinen

Was bleibt, ist eine Ukraine in Ruinen, aus denen viele Menschen geflüchtet sind, und keine Hoffnung auf ein baldiges Ende des Krieges. Erschütternd sind die Aufnahmen von zerstörten Häusern, wie man sie aus Aufnahmen aus dem Zweiten Weltkrieg kennt. Kaputte Wände lassen intime Einblicke in einst intakte Wohnungen zu: Schränke, Bücherregale, Betten. Dazwischen streunt ein Hund, auch er das Opfer eines brutalen, völkerrechtswidrigen und sinnlosen Eroberungskriegs.

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