Dokumentarfilm | Deutschland 2022 | 93 Minuten

Regie: Tuki Jencquel

Ein Filmemacher begleitet seine Mutter, die französische Sterbehilfe-Aktivistin Jacqueline Jencquel, beim Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zwischen intimen Gesprächen, Fernsehauftritten und Begegnungen mit Schicksalsgenossen wird das Porträt einer Frau gezeichnet, die nicht mehr leben will, obwohl es dafür keinen zwingenden Grund gibt. Trotz einiger unnötiger Ästhetisierungen und innerfamiliären Details lebt der Film weitgehend von der Entschlossenheit seiner Protagonistin und nimmt dem Thema durch seinen sanften, geduldigen Blick den Schrecken. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2022
Produktionsfirma
Orinokia Filmprod./Les Films du Balibari
Regie
Tuki Jencquel
Buch
Tuki Jencquel
Kamera
Tuki Jencquel
Musik
Thomas Becka
Schnitt
Sylvie Gadmer · Tuki Jencquel
Länge
93 Minuten
Kinostart
29.06.2023
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Doku über die französische Sterbehilfe-Aktivistin Jacqueline Jencquel und ihren Entschluss, ihrem Leben ein Ende zu setzen.

Diskussion

Auch ein Dokumentarfilm ist inszeniert, scheint Regisseur Tuki Jencquel sagen zu wollen, wenn er seiner Mutter gleich in der ersten Szene wiederholt Anweisungen gibt. Tatsächlich geht es in „Jackie the Wolf“ zunächst um den richtigen Auftritt. Gleich zu Beginn ist die 74-jährige Jacqueline Jencquel in ihrer Funktion als Aktivistin für Sterbehilfe in einer Fernsehsendung zu Gast. Dort bringt sie den jungen Moderator in Verlegenheit, als sie davon fantasiert, dass ihr nach dem Tod vielleicht ein paar fesche Männer zur freien sexuellen Verfügung stehen. Dem ernsten Thema widmet sie sich unerschrocken und humorvoll.

Auch Jacqueline will sterben. Ihre Entschlossenheit zeigt sich daran, dass sie sogar schon ein Datum in naher Zukunft dafür ausgewählt hat. Ihr Sohn begleitet sie mit der Kamera und wählt eine teilweise etwas glatte, ästhetisierende, unnötig mit Unschärfen hantierende Bildsprache, die das Vorhaben zunächst etwas harmloser aussehen lässt, als es eigentlich ist. Die Mutter selbst legt dagegen Wert darauf, möglichst direkt und unsentimental aufzutreten. Mit der Lektorin ihres Buches, das am Todestag erscheinen soll, gibt es eine vielsagende Diskussion darüber, dass das unverblümte „Sterben“ dem verharmlosenden „Einschlafen“ vorzuziehen sei.

Eine gewisse Todessehnsucht

Warum will Jacqueline sterben? Sie sieht fantastisch aus, ist geistreich und körperlich fit, hat keine finanziellen Sorgen, dafür aber eine umso lebhaftere Libido. Die Gründe zeichnen sich erst langsam und beiläufig ab. Wenn eine Rose verblüht ist, fallen nur noch welke Blätter ab, argumentiert Jacqueline einmal. Mit ihrem gestrafften Gesicht, den blondierten Haaren und den jugendlich sportlichen Klamotten sieht sie zwar viel jünger aus als sie ist, steht mit dem eigenen, in ihren Augen viel zu alten und unattraktiven Körper aber auf Kriegsfuß.

Einmal singt Jacqueline ein Chanson von Yves Montand, während Super-8-Aufnahmen von früher vorbeiziehen. Aber so heil und idealisiert will der Film die Vergangenheit dann doch nicht verkaufen. Schon mit Anfang 20 fühlte sie eine gewisse Todessehnsucht. Der Glaube, keinen wirklichen Zweck mehr in der Welt zu erfüllen, schlägt ihr mittlerweile auch psychisch aufs Gemüt. Auf keinen Fall will sie in einem Krankenbett vor sich hinsiechen oder den Kindern zur Last fallen. Der Filmtitel vergleicht Jacquelines kämpferisches Naturell mit einem Raubtier. In freier Natur sieht man, wie sie eine Schafherde mit Wolfsgeheul verjagt.

Ein Funke Angst und Unsicherheit

Tuki Jencquel folgt seiner Mutter in die Schweizer Berge zum Sterbehilfeverein Exit, lässt sie mit der Enkeltochter spielen oder befragt sie auf der Couch oder im Bett. Manchmal wirkt „Jackie the Wolf“ ein wenig richtungslos, weil er zwischen seinem Thema und Jacquelines Biografie schwankt und sich dabei teilweise in innerfamiliären Details verliert. Der jüngere Bruder des Regisseurs wird mehrmals als Lieblingssohn erwähnt, doch seine Abwesenheit bleibt ungeklärt. Teilweise rückt Jencquel seiner Mutter mit manierierten Experimenten etwas zu sehr zu Leibe. So soll sie etwa vor der Kamera in die Rollen verschiedener Familienmitglieder schlüpfen, während sie sich deren kindlich gekritzelte Porträts vors Gesicht hält.

Jacqueline ist jedoch widerständig genug, um sich immer wieder mit ihrem Sohn zu reiben. Der hat für ihren Sterbewunsch wenig übrig und ist irritiert, dass jemand mit einem scheinbar sorglosen Leben einen derart radikalen Schritt gehen will. Die freigeistige Jacqueline wiederum versteht nicht, warum sie unnötig leiden soll und ihre erst nach der Scheidung von ihrem Mann entdeckte Selbstbestimmtheit nun zugunsten eines ungewissen Schicksals aufgeben soll. Und doch findet sich hinter der abgeklärten Fassade auch manchmal ein Funke Angst und Unsicherheit. Zweifel kommen Jacqueline auch, als ein weiteres Enkelkind unterwegs ist, und sie ihren Sterbetermin noch einmal verschiebt.

Die Leere, wenn jemand fehlt

Zunehmend deutlich wird dabei das große Gefälle zwischen der getroffenen Entscheidung und der Konsequenz, diese auch durchzuziehen. Man bewundert Jacquelines Galgenhumor, aber spätestens als eine Exit-Mitarbeiterin im Sterbezimmer den Vorgang detailliert durchspielt, schnürt es einem doch etwas den Hals zu. Später begleitet Jacqueline eine an Polyarthrose erkrankte Gleichgesinnte in den Tod. Die Kamera bleibt während des Prozederes dabei, konzentriert sich aber überwiegend auf Jacquelines Pokerface, in dem sie mit der Zeit auch eine gewisse Ergriffenheit entdeckt. Es ist ein angespannter Moment, der durch seine Sanftheit auf tröstliche Weise aber auch einem vermeintlich unerhörten Vorgang den Schrecken nimmt.

Vom Tod seiner Protagonistin erzählt „Jackie the Wolf“ letztlich nur durch Aufnahmen ihrer verlassenen Wohnung. Tuki Jencquel zeigt die drückende Leere, wenn jemand fehlt. Wichtiger ist aber, dass Jacqueline gehen konnte, wann sie es selbst für richtig hielt.

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