Steve
Drama | Irland/Großbritannien 2025 | 93 Minuten
Regie: Tim Mielants
Filmdaten
- Originaltitel
- STEVE
- Produktionsland
- Irland/Großbritannien
- Produktionsjahr
- 2025
- Produktionsfirma
- Big Things Films
- Regie
- Tim Mielants
- Buch
- Max Porter
- Kamera
- Robrecht Heyvaert
- Musik
- Geoff Barrow · Ben Salisbury
- Schnitt
- Danielle Palmer
- Darsteller
- Cillian Murphy (Steve) · Jay Lycurgo (Shy) · Tracey Ullman (Amanda) · Simbi Ajikawo (Shola) · Emily Watson (Jenny)
- Länge
- 93 Minuten
- Kinostart
- -
- Pädagogische Empfehlung
- - Ab 14.
- Genre
- Drama | Sozialdrama
- Externe Links
- IMDb | TMDB | JustWatch
Literaturverfilmung um einen Tag an einer reformpädagogischen Schule für schwierige Jugendliche, an dem zudem eine Schulschließung droht.
„Das ist seine letzte Chance“, heißt es oft, wenn auf der Kippe steht, ob ein Jugendlicher auf die schiefe Bahn gerät oder doch noch die Kurve bekommt. Ob er oder sie ein funktionierender Teil der Gesellschaft wird oder ein Leben abseits der Normen führt – sei es im Gefängnis oder auf anderen Abwegen. Doch wer entscheidet, wann und wieso es eine letzte Chance gibt? Wie gelangt man an diese entscheidende Gabelung eines Lebenswegs?
Steve (Cillian Murphy), der Leiter der reformpädagogischen Schule „Stanton Wood Manor“ im ländlichen England, möchte männlichen Jugendlichen aus zerrütteten Lebensumständen eine Chance geben, damit sie ihr Leben zum Besseren wenden können. Da die staatlichen Gelder aber knapp sind, kümmern sich nur wenige Lehrer um die Schüler. Wobei der Umgang mit vielen der Jugendlichen schwierig ist. Der fürsorgliche Schulleiter setzt aber alles daran, sowohl für die Schüler als auch seine Kollegen da zu sein; er kümmert sich aber auch um die Bürokratie und die Zukunft der Einrichtung. Und auch seine eigenen Dämonen lassen sich nicht so ohne Weiteres ignorieren.
Von Shy zu Steve
Mit „Steve“ adaptiert der belgische Filmemacher Tim Mielants den Roman „Shy“ von Max Porter, von dem auch das Drehbuch stammt. Bei diesem Prozess von der Literaturvorlage zur filmischen Realisierung findet ein Perspektivwechsel statt. Denn Steve richtet in seiner emotionalen Art ein besonderes Augenmerk auf den unauffälligen Shy (Jay Lycurgo). Doch statt dies wie im Roman aus der Sicht des Schülers zu schildern, legt das Sozialdrama den Fokus auf den Leiter der Einrichtung.
Erzählt wird von einem einzigen Schultag, der kompliziert beginnt. Neben den alltäglichen Mikroaggressionen, die die Dynamik der Jugendlichen untereinander und mit dem Lehrpersonal bestimmt, erfährt Steve, dass der Betrieb des Hauses eingestellt werden soll.
Das drohende Chaos wird überdies gerade von einem Kamerateam begleitet, das einen Film über die Schule drehen möchte und sich die Frage stellt: Handelt es sich um eine progressive Bildungsinstitution oder eine Kaderschmiede für künftige Straftäter?
„Was würdest du deinem alten Ich sagen?“, werden die Heranwachsenden in Interviews vor der Kamera gefragt. Suggeriert wird dabei, dass sie aus eigenem Versäumnis auf die schiefe Bahn geraten sind, ohne Einfluss der äußeren Lebensumstände. „Steve“ spielt im Jahre 1996; die geschilderten Verhältnisse erzählen auch von den Auswirkungen des Thatcherismus. Zwar werden die sozioökonomischen Strukturen nicht direkt angesprochen, doch die in Aggression transformierte Perspektivlosigkeit der Schüler zeugt indirekt auch von den Zeitumständen. Besonders Shy, mit zermürbtem Gesicht und dem Walkman auf den Ohren, wirkt zunehmend hilfloser.
Mehr Kumpel als Autorität
Dieser Hilflosigkeit will Steve etwas entgegensetzen. Mit einer sanften Gangart und verständnisvollen Gesprächen versucht er auf die Schüler einzuwirken, während er selbst mit seinen eigenen Traumata und einer Schmerzmittelsucht zu kämpfen hat. Er wird von allen geduzt und gibt sich eher als Kumpel denn als Autorität. Doch performative Fürsorge, Idealismus und Empathie genügen nicht. Auch Steve erlebt einen verzweifelten Wutausbruch, als er vom Verkauf der Einrichtung erfährt.
Wenn ein britischer Abgeordneter vor der Schulgemeinde spricht und auf den Kommunismus eindrischt, während er gleichzeitig über die Lehrergehälter schwadroniert, bricht die Systemkritik in „Steve“ am deutlichsten hervor. Die Ansprache wird von Shy unterbrochen, der den Redner im britischen Slang beleidigt. Als Steve dem ungläubigen Politiker beim Hinausstapfen hinterherblickt, geistern ihm wohl ähnliche Schimpfwörter durch den Kopf.
Die Handkamera von Robrecht Heyvaert ist nahe an den Gesichtern und bemüht sich, die leidgeprüften Protagonisten einzufangen. Im Streit untereinander werden die jungen Männer als rohe Naturgewalt inszeniert, in der nächsten Szene aber als verspielte Heranwachsende gezeichnet, die typische Jungengespräche führen und sich ironisch als „Cunt“ aufziehen. Ruckartige Aufnahmen verdeutlichen das Chaos der institutionellen Misere zwischen Bürokratie und Menschenverbund. In seinem tumultartigen Durcheinander erinnert „Steve“ nicht nur thematisch an „Das Lehrerzimmer“.
Am Kern der Reformpädagogik vorbei
Die Erzählung fällt allerdings didaktischer aus; Sorgen und Nöte der Protagonisten werden vor allem verbal zum Ausdruck gebracht. Ständig wird geredet: in den Interviews mit der Filmcrew, in klärenden Gesprächen, auf internen Sitzungen oder im Unterricht. Vor allem Shy beginnt, das System zu verachten und dies auch an den ihm wohlgesonnenen Steve auszulassen. Selbst die Schulpsychologin (Emily Watson) dringt nicht mehr zu ihm durch; der Einzelgänger zieht sich in sein inneres Exil zurück.
Nach „Kleine Dinge wie diese“ kooperiert der belgische Filmemacher Tim Mielants erneut mit Cillian Murphy, der den labilen Pädagogen kraftvoll interpretiert. Dennoch fragt man sich, ob die titelgebende Verschiebung von „Shy“ zu „Steve“ nicht am Kern der Reformpädagogik vorbeigeht. Das auf dem finnischen Rehabilitationsansatz basierende System stellt das Individuum in den Mittelpunkt. In der Literaturverfilmung dreht sich hingegen viel um den scheinbar nebensächlichen Ballast von Steve, wobei die Traumata klischeehaft angereichert sind.
Unterm Strich ist „Steve“ ein gutmütiger, aber hilfloser Film. Die anfangs kraftvoll-rohe Erzählung um ein marodes (Schul-)System driftet zunehmend ins psychologisierende Ausloten des dunklen Innenlebens ihres Protagonisten ab. Als ernüchternder Gegenentwurf zu idealisierenden Filmen über Lehrer-Schüler-Verhältnisse trifft „Steve“ zwar den richtigen Ton, provoziert aber auch die Frage, ob sich dieses Subgenre seit „Der Club der toten Dichter“ überhaupt weiterentwickelt hat.