Drama | Frankreich 1994 | 114 Minuten

Regie: André Téchiné

Vor dem Hintergrund des französisch-algerischen Krieges erleben 1962 vier Jugendliche aus der südwestlichen Provinz Frankreichs die schmerzliche Suche nach politischer, sexueller und beruflicher Identität an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Ein autobiografisch-authentisches Zeit-, Milieu- und Generationsporträt, das sich jeder Sentimentalität enthält. Der Film überzeugt durch seine sparsame, aber eindringliche Inszenierung, seine präzisen Charakterzeichnungen und die intensive schauspielerische Interpretation. (Der Film ist die längere Kinofassung des Films "Der Neue".) - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
LES ROSEAUX SAUVAGES
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
IMA/Les Films Alain Sarde
Regie
André Téchiné
Buch
André Téchiné · Gilles Taurand · Olivier Massart
Kamera
Jeanne Lapoirie
Schnitt
Martine Giordano
Darsteller
Gaël Morel (François) · Élodie Bouchez (Maité) · Frédéric Gorny (Henri) · Stéphane Rideau (Serge) · Michèle Moretti (Madame Alvarez)
Länge
114 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Frankreich im Sommer 1962: Während die Algerien-Frage einen tiefen Graben durch die "grande Nation" zieht und der Terror der in der Organisation de l'Armée Secrète (OAS) organisierten nationalistischen Algerien-Franzosen sich weiter steigert, wird in der Nähe einer kleinen Stadt im Südwesten Bauernhochzeit gefeiert. Hier in der sonnendurchfluteten ländlichen Provinz des Midi scheint die Welt noch in Ordnung, scheint die Politik die Wege des privaten Glücks noch nicht zu kreuzen. Doch die Idylle trügt: Der junge Soldat Pierre ist nur für einige Tage in seine Heimat zurückgekehrt, um durch die Zweckehe mit einer willkürlich ausgewählten, ungeliebten Frau "legal" desertieren zu können. Letztlich aber wird ihm die Scheinheirat nichts nutzen; schon bald muß er zurück in den Krieg, weil ihm selbst die alleinstehende Lehrerin Alvarez, eine Sozialistin, die er eigentlich begehrt, die Unterstützung verweigert.

Auf dem Fest kommt es auch zum ersten, flüchtigen Zusammentreffen der "Wilden Schilfrohre": zwischen Maité, der scheuen, unter der Ungewißheit der Jugend leidenden Tochter der Madame Alvarez; ihrem platonischen Liebhaber Francois, einem sensiblen, für seine Umwelt überheblich auftretenden ehemaligen Klosterschüler und Intellektuellen, der sein elitäres, aber labiles Selbstwertgefühl allein aus seinem literarischen und cineastischen Wissen bezieht; und schließlich Serge, dem sich abgeklärt und lebenserfahren gebenden jüngeren Bruder des Bräutigams. Dieser ersten zufälligen Begegnung der so unterschiedlichen jungen Männer folgt die vorsichtige Annäherung auf dem Internatsgymnasium: Was wie eine schulische Überlebenssymbiose beginnt - Francois übernimmt die Aufsätze, Serge die Mathematik -, endet in der gegenseitigen zärtlichen sexuellen Befriedigung. Doch die langsam aufkeimende homoerotische Liebe wird schon bald wieder gestört: der 21 jährige Algerien-Franzose Henri, ein exilierter sogenannter "pieds-noir" und militanter OAS-Sympathisant kommt neu in die Klasse und wird mit seinem demonstrativ zur Schau getragenen Haß auf den vermeintlich politischen Gegner und seinen offenen Provokationen zum Katalysator des komplizierten Beziehungsgeflechts.

Erst durch die Nachricht vom Tode Pierres jedoch treten die nur notdürftig getarnten Spannungen offen zutage und es kommt zum vorläufigen Bruch: Der in seiner Trauer verbitterte Serge verläßt die Schule und überlegt, auf den elterlichen Hof zurückzukehren, Francois fühlt sich trotz eindeutiger Abweisungen plötzlich zu seinem neuen Zimmergenossen Henri hingezogen, und Maité flüchtet sich in ihre politische Arbeit bei der Parti communiste, während ihre Mutter aus Schuldgefühlen und Selbstvorwürfen einen Nervenzusammenbruch erleidet. Doch ist das noch nicht das Ende der Geschichte: Téchinés Expedition in das Gefühlslabyrinth der Jugend mündet in einen gemeinsamen Badeausflug an die Ufer der Garonne, der für alle Beteiligten gleichzeitig Verbindung und Trennung, Glück und Schmerz, Klärung und neue Zweifel bringt. Die erstmals ihrer Sehnsucht nach Geborgenheit nachgebende und ihren Körper sinnlich erfahrende Maité und der sich aus seinem politischen Bewußtseinskorsett befreiende Henri entdecken ungeahnte Gefühle füreinander, die sie aber unmöglich zusammen ausleben können. Und auch der seine Homosexualität endlich akzeptierende Francois muß von Serge erfahren, daß sie zwar enge Freunde, aber niemals Liebespartner sein können.

Andre Téchinés Film ist die Kinofassung einer 16mm-Produktion im Auftrag einer Fernseh-Produzentin, die für eine Mini-Serie unter dem an das Lied von Françoise Hardy angelehnten Titel "Tous le garçons et les filles de leur age" neun Filmemacher unterschiedlicher Generationen bat, autobiografische Geschichten aus ihrer Jugend zu erzählen. Téchiné entschied sich für die 60er Jahre, nicht zuletzt, weil er schon lange die Zeit des Algerienkriegs in Szenesetzen wollte". Er dient ihm hier allerdings nur als Hintergrund einer sparsam inszenierten, sehr persönlichen, aber unsentimentalen filmischen Aufarbeitung seiner Jugend, die bis auf einige Zeitkolorit spendenden Pop-Hits fast ganz auf Musik verzichtet, mit ihren langen dialogischen Passagen an das poetische Sprech-Kino eines Eric Rohmer erinnert und erneut alle Themen aufgreift, die schon seine früheren, formal sehr unterschiedlichen Werke prägten. Jeanne Lapories atmosphärische Kamera ist stets auf der Höhe des Geschehens, rückt den perfekt geführten, häufig spontan improvisierenden Darstellern hautnah zu Leibe, was diese auch bravourös aushalten. In ihren noch ungezeichneten glatten Gesichtern spiegeln sich jugendliche Entschlossenheit und Freiheitsdrang ebenso glaubwürdig und intensiv wider wie der damit schmerzhaft kollidierende Zweifel an der "Richtigkeit" des eigenen Tuns. Sein filmisches Alter Ego findet Téchiné in der Figur des cinephilen François, der wie er selbst früher "alles theoretisch angeht", allein über die Literatur und das Kino statt über die unmittelbare konkrete Erfahrung Orientierung und Zugang zum Leben sucht, lieber über das versöhnliche Ende von Bergmans "Wie in einem Spiegel" debattiert, als sich mit unbekannten Menschen zu konfrontieren. Brecht-Bewunderer Téchiné hat, wie er selbst sagt, inzwischen diesen wahrnehmungseinengenden Scheuklappenblick aus zweiter Hand abgelegt, seine Figur aber hat diesen wichtigen Schritt am Ende des Films noch vor sich.
Kommentar verfassen

Kommentieren