Little Odessa

Gangsterfilm | USA 1994 | 98 Minuten

Regie: James Gray

Ein von Rächern gejagter Auftragsmörder trifft in seinem New Yorker Heimatviertel auf seinen Bruder, der ihm vom bevorstehenden Krebstod der Mutter berichtet. Um die Sterbende noch einmal sehen zu können, erpreßt der Killer seinen Vater, der ihn verstoßen hat. Die beim Besuch gemachten Versprechen kann er jedoch nicht einhalten. Spielfilmdebüt, das in einer wohldosierten Mischung aus stimmig inszenierter Gangster-Story und konsequent entwickelter Familientragödie auch Fragen nach Schuld, Sühne, Vergebung und der Notwendigkeit von Wertbewußtsein stellt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LITTLE ODESSA
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
New Line Cinema
Regie
James Gray
Buch
James Gray
Kamera
Tom Richmond
Musik
Dana Sano
Schnitt
Dorian Harris
Darsteller
Tim Roth (Joshua Shapira) · Edward Furlong (Reuben Shapira) · Maximilian Schell (Arkady Shapira) · Vanessa Redgrave (Irina Shapira) · Moira Kelly (Alla Shustervich)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Gangsterfilm | Melodram
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Diskussion
Auf einer Parkbank sitzt ein Mann und liest. Ein junger Mann tritt heran, zieht ohne Hast eine Pistole, schießt dem Lesenden aus nächster Nähe in den Kopf und geht ohne sichtbare Regung davon. Nur der bereits gewohnte Auftakt zu einem gewalttätigen Gangsterkrimi um einen brutalen Serienmörder, wie sie im US-Kino inzwischen Legion geworden sind?

Joshua Shapira, Mitte Zwanzig, ist Auftragskiller von Beruf. Seit Monaten kann er sich nicht mehr zu Hause im russisch-jüdischen Viertel von Brighton Beach blicken lassen, sondern versteckt sich in Brooklyn vor dem rachsüchtigen Boß der mächtigen russischen "organizatsiya". Erst ein neuer "Kontrakt" bringt ihn zurück ins heimische "Little Odessa", wo fast ausschließlich jüdische Immigranten aus Osteuropa leben. Als Reuben, sein halbwüchsiger Bruder, der das Kino der Schule vorzieht, von Joshuas Rückkehr hört, sucht er ihn auf und erzählt von zu Hause: von seiner Gammelei, vom strengen Vater, der ihn - wie seinen Bruder zuvor - mit Predigt und Prügeln auf den rechten Weg bringen will und immer noch versucht, mit seinem Kiosk die Familie durchzubringen, von der greisen Großmutter, deren 80. Geburtstag bevorsteht - und von der Mutter, die bald an einem Gehirntumor sterben wird. Trotz strikten Hausverbots des Vaters, der ihn als Mörder verstoßen hat, beschließt Joshua, die Mutter vor ihrem Tod noch ein letztes Mal zu sehen. Nach einem ersten Versuch, der mit Streit, Schlägerei und seinem Rauswurf endet, bietet Joshua die soeben entdeckte Affäre des Vaters mit einer jüngeren Frau die Möglichkeit, den Besuch zu erzwingen. Am Sterbebett seiner Mutter verspricht Joshua, sich zu ändern, zum Fest der Großmutter zu erscheinen und sich um Reuben zu kümmern. Aber wie soll ein Killer auf der Flucht solche Versprechen halten?

Nachdem der Produzent Paul Webster 1993 den Abschluß-Kurzfilm von James Gray gesehen hatte, sicherte er dem gerade 24 Jahre alten Absolventen der USC Film School die Produktion seines ersten Spielfilms zu: Thema und Gestaltung frei. Gray schrieb binnen sechs Monaten ein Drehbuch, holte sich mit dem Stoff Zusagen von Roth, Redgrave und Schell, und realisierte innerhalb eines Jahres sein Debüt "Little Odessa" - in Farbe, Scope und Dolby-Stereo zum (Hollywood-)Spottpreis von nicht ganz drei Millionen Dollar. Glücklicherweise ist auch im Film-Geschäft preiswert nicht dasselbe wie billig. Selbst wenn ihm "nur" ein guter Genre-Film gelungen wäre, dürfte Gray zufrieden sein, aber "Little Odessa" bietet mehr als nur eine stimmig inszenierte Gangster-Story im Milieu der russisch-jüdischen Einwanderer. Der Film funktioniert auf dieser ersten, oberflächlichen Ebene, indem er mit einem Minimum an äußerer Handlung und ohne aufgesetzte Dramatik bis zuletzt spannend offen hält, ob und wie der gehetzte Mörder der Rache seiner Feinde zum Opfer fallen wird. Zugleich wird man in diesem düsteren Film, dessen winterlich-schmutzige Farben einfach nicht bunt wirken wollen, ohnmächtiger Zeuge einer konsequent entwickelten Familientragödie griechischen Ausmaßes, in der Frevel und Sühne bekanntlich nie "gerecht" unter Schuldigen und Unschuldigen verteilt sind. Und, last not least, hört man einen unaufdringlichen und im aktuellen Unterhaltungsfilm völlig unerwarteten Kommentar zu Religiosität und Gott-Losigkeit in der Welt der Gegenwart: zwischen den Zeilen stellt der Regisseur die Frage, ob - in Abwesenheit Gottes auf der Erde - nicht allein eine eigene, selbstgegebene Moral dem Menschen die Richtung weisen kann. Sein Film führt eindrucksvoll vor, daß ohne (Selbst-)Verpflichtung auf bindende Werte zwangsläufig jene von selbst eskalierende Spirale der Gewalt einsetzt, die ihre Opfer schließlich vor allem unter den Unbeteiligten fordert.
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