Vanya - 42. Straße

Drama | USA/Großbritannien 1994 | 120 Minuten

Regie: Louis Malle

Die filmische Festschreibung eines Theaterexperiments, das der New Yorker Theater-Exzentriker André Gregory seit vier Jahren zelebriert: den Durchlauf zu Anton Tschechows "Onkel Wanja" vor einer erlesenen Zuschauerschar. Ein Stück über ein verschwendetes Leben, voller Weltschmerz, angesiedelt in der Tiefe der russischen Seele. Überragende Darsteller, ein kluges filmisches Konzept und eine exzellente Kameraarbeit machen den Film zu einem Erlebnis, auf das die Zuschauer sich allerdings einlassen müssen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
VANYA ON 42ND STREET
Produktionsland
USA/Großbritannien
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
The Vanya Company (für Mayfair/Channel 4/Sony Pictures Classics)
Regie
Louis Malle · André Gregory
Buch
David Mamet
Kamera
Declan Quinn
Musik
Joshua Redman
Schnitt
Nancy Baker
Darsteller
Wallace Shawn (Vanja) · Brooke Smith (Sonya) · Julianne Moore (Yelena) · George Gaynes (Prof. Alexander Cerariakov) · Lynn Cohen (Mutter)
Länge
120 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Heimkino

DVD ist nur in einer 3er Box "Louis Malle - 3 Gesichter eines Regisseurs" erschienen.

Verleih DVD
Concorde (16:9, 1.66:1, DD2.0 engl./dt.)
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Diskussion
Ein Frühlingstag im Mai 1994: Passanten eilen über die 42nd Street von New York, den Off-Broadway. Nur allmählich heben sich einzelne Gesichter von der Menge ab, man trifft sich, grüßt, umarmt sich, und plötzlich hat sich eine Gruppe von Menschen gebildet, die ein gemeinsames Ziel haben - das abbruchreife New Amsterdam Theatre. Die Decken des Hauses sind mit Netzen unterzogen, um etwaige Besucher vor bröckelndem Putz und Stuck zu schützen; die Atmosphäre ist unwirklich, als ob zu Zeit stillstehen würde, das Licht ist gedämpft.

Dies ist der Rahmen, in dem ein ungewöhnliches Theaterexperiment stattfindet. Schauspieler, ein Teil der Gruppe gibt Cechovs Theaterstück "Onkel Vanya", der andere Teil stellt die Zuschauer. Doch das Stück aus dem Jahre 1899 wird nicht als Theatererlebnis in zeitgenössischen Kostümen dargeboten, sondern als Durchlauf, als Probe an einem Stück. Die Schauspieler tragen Straßenkleidung, die Requisiten sind spärlich, eine Tasse mit dem Logo "I love New York" transportiert den Klassiker beiläufig in unsere Zeit.

Erzählt wird die Geschichte von Onkel Vanya, der mit seiner Nichte Sonya das Gut der verstorbenen Schwester bewirtschaftet. Nutznießer dieser Arbeit ist ein Literaturprofessor, der Mann und Erbe der Verstorbenen, der mit seiner zweiten, wesentlich jüngeren Frau zu Besuch ist. Ständiger Gast im Hause ist Dr. Astrov, ein desillusionierter Arzt, der sich dem Trunke ergeben hat. Er und Vanya begehren die schöne Yelena, suchen ihre Nähe, Sonya hingegen verzehrt sich in Liebe zu Astrov, der ihr nicht mehr als freundliche Gefühle entgegenbringen kann. Yelena, die ihren Mann längst nicht mehr liebt, sondern aus einer nebulösen Solidarität zu ihm hält, gibt beiden Verehrern einen Korb, obwohl sie das erotische Spannungsfeld, das sie umgibt, durchaus zu schätzen weiß. Dieses emotionale Pulverfaß droht zu explodieren, als der Professor, ein eitler, selbstgerechter Schwätzer, ankündigt, er wolle das Gut verkaufen, um mit seiner Frau in der Stadt ein wohlfeiles Leben führen zu können. Vanya sieht sich nicht nur um seine Existenz gebracht, er erkennt auch, daß er die 47 Jahre seines Lebens nutzlos vertan hat. Ein unerfülltes, verschwendetes Leben, das sich ohne Aussicht auf eine glücklichere Perspektive dem Ende zuneigt. Nach einem heftigen Wortgefecht zwischen den Kontrahenten fallen zwei Schüsse, doch der Professor bleibt unverletzt und reist nach versöhnlichen Worten ab. Auch der Arzt zieht sich zurück, Vanya und Sonja bleiben, nichts hat sich geändert, das Leben verrinnt leise und unaufhaltsam. Beide werden "geduldig alle Prüfungen ertragen, die das Schicksal (ihnen) noch auferlegt". Was bleibt ist die Hoffnung auf das Jenseits, wo man endlich ausruhen kann.

Ein Theaterstück, in jeder Szene erfüllt von leisem Weltschmerz, von der bedingungslosen Akzeptanz des eigenen Schicksals, das ohnehin nicht zu ändern ist. Der Bühnen- und Drehbuchautor David Mamet hat Cechovs Stück überarbeitet, der New Yorker Theater-Exzentriker André Gregory hat diese Adaption auf die Bühne gebracht, jedoch nicht als festgeschriebene Inszenierung, sondern als ständigen Durchlauf, der vier Jahre lang, mit Unterbrechungen, vor einem kleinen Freundes- und Bekanntenkreis geprobt wurde.

Bis auf wenige kurze Szenen beschränkt sich Louis Malle auf Cechovs Vierakter. Die wenigen Zuschauer, die anfänglich eine Rahmenhandlung suggerieren, bleiben außen vor, dienen als kurze Zäsur zwischen den Akten. Der Film ist Theater pur, wobei die filmischen Mittel, die exquisite Kameraarbeit dem Stück nun eine besondere Struktur verleihen. Großaufnahmen der überragenden Darsteller bestimmen das Geschehen, sondieren die Seelenlage der Charaktere, halbtotale Aufnahmen untersteichen die sich ändernden Personenkonstellationen, die Totale kommt nur in den Pausen vor, umfaßt nur die Zuschauer. Wer sich auf ein solches Konzept einläßt, und dazu bedarf es einiger Zeit, erlebt einen wunderbaren Film und eine beispielhafte Theaterinszenierung, die sich ohne jedes schmückende und ablenkende Beiwerk, ohne jeden blendenden Effekt auf das Stück und die Seelen seiner Protagonisten konzentriert.

So brillant Louis Malles "Onkel Vanya"-Verfilmung auch sein mag, eins geht ihr im Gegensatz zu Gregorys Durchlauf-Inszenierung ab: die Spontaneität. Wurde das Stück vier Jahre lang, bei jeder Aurführung (geringfügig) abgeändert, kamen die Stimmungen der Schauspieler, spontane Einfälle, neue Erfahrungen ins Spiel - die erste Darstellerin des alten Kindermädchens verstarb gar und mußte ersetzt werden -, so ist die Gregory-Inszenierung nun endgültig festgeschrieben und kann datiert werden. Vor - und Nachteile im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit.
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