Vokzal - Bahnhof Brest

- | Deutschland 1994 | 90 Minuten

Regie: Gerd Kroske

Geschichte und Geschichten vom Bahnhof Brest an der Grenze zwischen Polen und Weißrußland, 1941 Ausgangspunkt des Krieges der Nationalsozialisten gegen die Sowjetunion. Eine beklemmende, mit Archivmaterial angereicherte Studie, die mit teils skurrilen, teils bewegenden Momentaufnahmen vom Zerfall einer Gesellschaft berichtet. Privates und Historie werden geschickt zu einem faszinierenden Kaleidoskop verwebt. (Russisch m.d.U.; Fernseh- und Videotitel: "Bahnhof Brest") - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Ö-Film Löprich-Schlösser/WDR
Regie
Gerd Kroske
Buch
Gerd Kroske
Kamera
Dieter Chill
Schnitt
Karin Schöning
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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IMDb | TMDB

Diskussion
Bahnhöfe scheinen schon immer eine besondere Faszination gehabt zu haben. Mit ihrem Gewirr von Wartenden, Ankommenden und Abfahrenden galten sie Schriftstellern, Malern und anderen kreativen Geistern lange Zeit als eine Art gesellschaftlicher Mikrokosmos, in dem Jung und Alt, Arm und Reich, Schicksale, Geschichten, Träume und Sehnsüchte aufeinandertrafen. Gepaart mit der geballten Technik, die an diesen Orte versammelt war, mutierten Bahnhöfe darüber hinaus zum Projektionsraum für die fantastischsten Geschichten. Nicht zufällig zeigen einige der ersten Minuten der Filmgeschichte der Brüder Lumière die Einfahrt eines Zuges. Doch wahrscheinlich gibt es nicht viele Bahnhöfe, die ähnlich viel Geschichte "geschrieben" und Geschichten zu "erzählen" haben wie der Bahnhof von Brest an der Grenze zwischen Polen und Weißrußland. 1941 war die Stadt ein Ausgangspunkt des Überfalls der Nationalsozialisten auf die Sowjetunion. Drei Jahre später wurde sie von der Roten Armee zurückerobert. In jüngster Zeit wurde ihr Bahnhof Durchgangsstation für Soldaten, die von ihren Standorten in Polen und in der ehemaligen DDR in die Staaten der ehemaligen Sowjetunion zurückkehrten - und auf den Bahnsteigen auf jene Zivilisten trafen, die in Gegenrichtung unterwegs waren, um ihr Hab und Gut im Westen zu veräußern. Eine Reihe dieser teils skurrilen, teils bewegenden Geschichten erzählt Gerd Kroske in seinem Dokumentarfilm.

Kinder, die unweit der Gleise spielen; ein Mann, der Drogen, Orden und Ikonen bewacht, die man Reisenden abgenommen hat, die diese "Devisenbringer" in den Westen schmuggeln wollten; ein Taxifahrer, der seine mißliche Lage mit (Galgen-)Humor trägt, ein Lied vom "treuen Freund, der Motor" singt und partout nicht verstehen kann, warum ein Kilo Fleisch auf der ganzen Welt nicht dasselbe kostet; Jugendliche, die auf dem Bahnhof auf die Ankunft einer Moskauer Rocktruppe namens "Metallkorrosion" warten; Reisende, die geduldig nach Fahrkarten anstehen, und mürrische Grenzbeamte, die sich sichtbar nach ihrer Machtfülle vergangener Tage zurücksehnen. Vieles davon wirkt wie beiläufig eingefangen. Desgleichen beschränken sich die Gespräche manchmal auf Small Talk, um dann wieder unvermittelt eine bedrückende Intensität zu gewinnen. So etwa das Räsonnement eines jungen Soldaten, der sich zunächst in James-Dean-Pose mit Zigarette in der Hand lässig an einen Mast lehnt, knappe Antworten gibt, doch plötzlich in melancholischem Tonfall seine Lebensgeschichte als Waisenkind erzählt und von seinen Zukunftsängsten berichtet: "Alle anderen haben ein Zuhause, in das sie zurückkehren können.

Auf mich warten nur Einsamkeit und Kälte." Doch fast immer scheint in diesen persönlichen Geschichten auch die "große Geschichte" durch. Ein Fotograf hat sich darauf spezialisiert, Bilder von Verstorbenen auf Emaille-Platten anzubringen, die deren Grabsteine zieren sollen. Darunter ein Foto von Timerjan Chabulowitsch Sinatow, eines Veterans der Roten Armee, der bei Brest gegen die deutsche Wehrmacht gekämpft hatte, und sich nun mit der neuen russischen Politik überwarf, die für die ehemaligen Soldaten der einst so stolzen und von den Offiziellen gehätschelten Armee nicht einmal mehr soviel übrig hat, wie sie zum nackten Überleben nötig hätten. Im September 1992 warf sich Sinatow im Bahnhof von Brest vor einen Zug. Was er bei sich hatte, wurde dem örtlichen Museum überlassen. Darunter sein Abschiedsbrief, in dem er um Verständnis für seine Verzweiflungstat bittet: "Ich möchte lieber stehend sterben, als auf Knien um Hilfe für mein Alter betteln. Ich möchte nicht weiter mit ausgestreckter Hand leben. Verurteilt mich nicht zu hart. Versetzt Euch doch in meine Lage!"

All diese Berichte und Bilder werden von Gerd Kroske und Cutterin Karin Schöning souverän zu einem faszinierenden Kaleidoskop montiert. Beiläufige Erzählungen wechseln mit "Gewichtigem", kurze Einstellungen mit langen Sequenzen, Bilder aus russischen und deutschen Archiven mit Aktuellem. Und wenn da ehemalige Wehrmachtsangehörige, in Sachen Kriegstourismus unterwegs, frei von jedem Schuldbewußtsein von ihren Heldentaten schwadronieren, schließt sich der Kreis von Historie und Aktualität auf höchst beklemmende Weise. Eine sehenswerte Dokumentation, die sich nicht auf Oral History beschränkt, sondern durch ihre dezidiert "filmische" Umsetzung auch unbedingt kinotauglich ist. Allenfalls die Entscheidung, den schwarz-weißen 35mm-Bildern eine Tönung zu geben, die ihnen das Flair vergilbter Fotografien verleiht, wirkt dabei ein wenig geschmäcklerisch.
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