Transatlantis

Drama | Deutschland 1994 | 116 Minuten

Regie: Christian Wagner

Nach dem Tod seiner Mutter und angeregt durch die Aufzeichnungen seines Großvaters beginnt ein Kernphysiker, nach der mythologischen Insel Atlantis zu suchen, die er auf dem Dach der Welt, im Himalaya, vermutet. Vielschichtige Parabel über die Kraft des Utopischen, deren bildmächtige Chiffren und zurückgenommener Inszenierungsstil den Zuschauer zur eigenen Interpretation zwingen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Christian Wagner Filmproduktion
Regie
Christian Wagner
Buch
Christian Wagner
Kamera
Thomas Mauch
Musik
Florian Ernst Müller
Schnitt
Peter Przygodda
Darsteller
Daniel Olbrychski (Neuffer) · Birgit Aurell (Nele) · Jörg Hube (Brack) · Otto Grünmandl (Rubacher) · Fritz Rothdach (Großvater)
Länge
116 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Auf der diesjährigen "Berlinale" wurde "Transatlantis" belächelt und hämisch kommentiert. Vielleicht gehört Christian Wagners zweiter langer Kinofilm zu jener Kategorie von Filmen, die sich erst auf den zweiten Blick erschließen. Vielleicht bedarf es aber einfach auch nur einer entspannteren Atmosphäre, in der deutsche Filme nicht von vornherein aus jenem Blickwinkel betrachtet werden, der mit ihrem Scheitern rechnet. Wagners poetische Parabel jedenfalls braucht den Vergleich mit seinem preisgekrönten Debüt "Wallers letzter Gang" (fd 27 530) nicht zu scheuen. Vielschichtig und mit faszinierenden Bildern erzählt "Transatlantis" von der Sinnsuche eines Kernphysikers, der durch die Konfrontation mit seiner Allgäuer Heimat und dem plötzlichen Tod seiner Mutter einen Moment lang aus der Bahn geworfen wird. Anstatt aber bald wieder nach Genf in das Forschungszentrum CERN und zu seiner Frau zurückzukehren, läßt Neuffer es zu, daß seine Kindheitserinnerungen Besitz von ihm ergreifen. Auf langen Wanderungen über das "Gottesackerplateau", eine verkarstete Hochebene in den Allgäuer Bergen, spürt er den Aufzeichnungen seines Großvaters nach, der 1957 spurlos verschwand und Zeit seines Lebens dem Geheimnis eines mysteriösen "Nomandsland" auf der Spur war - eine Obsession, die bald auch vom Enkel Besitz ergreift. Wenn die Kamera zu Beginn in die Röhrenwelt des Teilchenbeschleunigers eintaucht, produzieren Neonröhren gespenstisch fahle Bilder von der Suche nach den letzten Weltbausteinen. In den Bergen dagegen wechselt das Licht fast stündlich, ist jede Gegend und jeder Raum in andere Helligkeiten getaucht, bis hin zu den grandiosen Naturschauspielen im Himalaya, wohin es Neuffer am Ende verschlägt. Der Regisseur hat gut daran getan. die verschiedenen Bewegungen im Film nicht antithetisch gegenüberzustellen. Weder läßt sich bei Neuffer eindeutig eine Wandlung vom Wissenschaftler zum weltflüchtenden Existenzsucher feststellen noch ohne weiteres aus der ansteigenden Topographie (unterirdisches Labor. Allgäuer Bergwelt, Himalaya) eine Wertung ablesen oder gar von einer Umkehrung des Zivilisationsprozesses (Hochtechnologie, bäuerliche Kultur, Archaik) sprechen. Es zählt zur filmischen Handschrift Wagners, seine Bilder so miteinander in Korrespondenz zu setzen, daß Raum für die Suchbewegung des Zuschauers bleibt. Dabei ist er durchaus an der Irritation des Betrachters interessiert: Die mehrmalige filmische Adaption von Wolfgang Oelzes Gemälde "Die Erwartung", eine Menschengruppe, die suchend in alle Richtungen blickt, verwirrt ebenso leicht wie die vielfach interpretierbare Schlußsequenz, in der Neuffer, eben noch in einem chinesischen Steppengefängnis, plötzlich zusammen mit seinem Großvater auf dem Gottesackerplateau steht. Solche Chiffren fordern ebenso zur Interpretation heraus wie der zurückgenommene Inszenierungsstil, den manche Kritiker als Unvermögen mißverstanden haben.

Besonders schön läßt sich Wagners Strategie der Imagination der Zuschauer an der Beziehung Neuffers zu Nele entschlüsseln, einer Abiturientin, die seiner Mutter zur Hand ging. Schüchtern und neugierig zugleich läßt sie sich auf die Spurensuche des Wissenschaftlers ein und findet zunehmend Gefallen an der Idee, daß die sagenumwobene Insel Atlantis nicht untergegangen, sondern infolge des Absinkens der Weltwasser auf den höchsten Gipfeln zu suchen sei: auf dem Dach der Welt, im Himalaya. Mit großer Sorgfalt ist diese Annäherung der Generationen in Szene gesetzt, mit überraschend fein abgestimmten Nähestufen, so daß zwischen beiden eine Art Liebesbeziehung entsteht, ohne daß auf die kulturell codierten Besitzformeln, Kuß oder Beischlaf, zurückgegriffen werden müßte. Bis zuletzt wartet man gespannt darauf, ob nicht doch noch "mehr" passiert, um später fast beschämt festzustellen, wie sich zwischen beiden unendlich viel ereignet hat.

Nele ist als Kontrastfigur zu Neuffer angelegt, ebenso wie Kommissar Brack, der einen mysteriösen Mord mit kriminalistischen Mitteln aufklären will, und der undurchschaubare Rubacher, der den entscheidenden Hinweis auf die Verkehrung der Atlantis-Sage gibt. Neles fast kindliche Art ist dem Unbekannten aufgeschlossener, ihr Rollen- und Selbstbewußtsein flexibler als das des zaudernden Neuffer. Erst auf ihre Initiative hin reisen beide nach China und dringen in das verbotene Tibet vor, wo Neuffers Großvater "Nomandsland" lokalisiert hatte. Doch statt einer Hochkultur finden sie nur Ruinen und chinesische Besatzungssoldaten, die inmitten der atemberaubenden Lehmlandschaft Billard spielen. Am Ziel der Suche, so könnte man deuten, beginnt eine neue Suche. Wagners Film erzählt in vielfach gebrochenen Bildern die Geschichte eines verlorenen Paradieses, auf dessen Spur man wieder gelangt, wenn man der Fährte anderer folgt. Vieles ist darin nur angedeutet, mit wenigen Hinweisen versehen. Neuffers innere Monologe sind gedankenschwere Sentenzen, sein Blick über die alpinen Nebelmeere ruft unweigerlich Erinnerungen an Caspar David Friedrich wach, die grandiose Landschaft Tibets weckt spirituelle Assoziationen. Vielleicht ist sein Appell an die Kraft des Utopischen, Fantastischen momentan zu weltfern, zu hermetisch, als daß er auf Begeisterung stieße. Der Qualität von "Transatlantis" tut dies keinen Abbruch.
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