Drama | Frankreich 1994 | 98 Minuten

Regie: Mathieu Kassovitz

Straßenschlachten in einer Pariser Trabantenstadt. Nachdem ein 16jähriger im Verhör lebensbedrohlich zugerichtet wurde, schwört ein anderer Jugendlicher, einen Polizisten zu töten, falls er stirbt. Eine bedrängende Exkursion in das Leben der "Banlieue" (Vorstädte), in denen die Jugendlichen einer hoffnungslosen Zukunft entgegengehen. Die präzise Inszenierung analysiert schonungslos die soziale Zeitbombe und verdichtet dabei ihre zentralen Themen von Gewalt und ihren Folgen, Solidarität und Ohnmacht in eindringlichen Bildern. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
LA HAINE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Lazennec/Canal +/Le Sept Cinéma/Kasso
Regie
Mathieu Kassovitz
Buch
Mathieu Kassovitz
Kamera
Pierre Aïm
Musik
div. Songs
Schnitt
Mathieu Kassovitz · Scott Stevenson
Darsteller
Vincent Cassel (Vinz) · Hubert Koundé (Hubert) · Saïd Taghmaoui (Saïd) · Karim Belkhadra (Samir) · François Levantal (Asterix)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
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Diskussion
Vom All aus sieht die Welt ganz ordentlich aus. Nur, daß von dort aus keiner der Pariser Jugendlichen aus den verarmten Vorstädten je einen Blick darauf geworfen hat. Ihre Augen starren auf Plexiglas und Polizeistiefel der "C.R.S.", einer rabiaten Spezialtruppe, die für ihr blutiges Vorgehen berüchtigt ist. Als der 16jährige Abdel beim Verhör im Polizeirevier so zugerichtet wird, daß er in Lebensgefahr schwebt, flackern schwere Unruhen auf: nächtliche Straßenschlachten, brennende Autos und Schulen, Verletzte auf beiden Seiten. Die Situation droht völlig zu explodieren, als die Pistole eines Zivilfanders abhanden kommt, und Vinz schwört, mit dieser Waffe einen Polizisten zu töten, wenn Abdel stirbt. Zusammen mit Said und Hubert schlägt er sich durch die nächsten 24 Stunden, in denen die Emotionen in der Trabantensiedlung überkochen. Der Revolver verändert das Gefüge der drei Freunde. Hubert, der schwarze Pazifist, der dem ohnmächtigen Haß der Jugendlichen mit Kampfsport und hartem Training entgegentritt, rückt von Vinz ab, ohne ihn aber im Stich zu lassen. Der kleine Araber Saïd dagegen, der sich mit gelegentlichen Drogendeals durchs Leben schlängelt, ist von Vinz' neuer Stärke hin- und hergerissen, weil er hinter den Haßparolen des jüdischen Großmauls erstmals wirkliche Macht spürt.

Zwischen Mehdi Charefs "Tee im Harem des Alchimedes" (fd 25 354) und Mathieu Kassovitz' zweitem Spielfilm liegen nicht nur zehn Jahre Zeitabstand. Obwohl beide Filme thematisch eng verwandt sind und tief in das Leben der seelenlosen Wohnsilo-Ghettos eintauchen, die Paris wie einen Kokon umgeben, liegen Welten zwischen ihnen. Die fast verspielten Streifzüge von Charefs jugendlichen Außenseitern sind bei Kassovitz einem bitteren Naturalismus gewichen, der schonungslos und kraß von der Härte der "Banlieues", der verarmten Sozialwohnungssiedlungen erzählt. Daß hier eine Zeitbombe tickt, wird nicht nur durch den Plot oder die Zeitinserts greifbar, die seine Geschichte zu einer Art Protokoll machen. Ungerührt dokumentiert die Kamera das Versagen der Politik: endlose Betonlandschaften, in denen Einwanderer, Illegale oder "sozial Schwache" hausen, Menschen ohne Arbeit und festes Einkommen, die sich mit Gelegenheitsjobs und Kleinkriminalität über Wasser halten. Eine Welt ohne Zukunft vor allem für ihre Heranwachsenden, die nur herumhängen, Joints ziehen und ihr Leben mit endlosem Warten verbringen.

Die Wucht, mit der Kassovitz den Zuschauer in die Auseinandersetzungen der drei Freunde zieht, resultiert aus der filmischen Gestaltung, aber auch aus dem hervorragenden Spiel der drei Hauptdarsteller, die der Geschichte hohe Authentizität verleihen. Schwarzweiße Bilder, harte Schnitte und die ausschließliche Verwendung von Originaltönen erzeugen einen bedrängenden Alltagsrealismus, der nicht nur den "sozialen Riß" durch die französische Gesellschaft spürbar macht, sondern auch ein Gefühl für die Ausweglosigkeit seiner Helden vermittelt. Wie sehr es dem 27jährigen Kassovitz trotz seiner ungeteilten Sympathie für die Bewohner der Banlieue doch gelingt, die Balance zwischen Parteilichkeit und Stilisierung zu halten, wird immer wieder in einzelnen Einstellungen deutlich, in denen sich seine Intentionen zur Metapher verdichten. Als Vinz den beiden Gefährten zum erstenmal die Pistole zeigt, schrecken diese zurück und weisen ihn ab, indem sie davonlaufen; dabei isoliert die Kamera den kahlköpfigen Vinz, der selbstvergessen über die Waffe streicht und plötzlich hochschreckt, als er merkt, daß er allein ist. Das schönste Bild, das Kasssovitz für die überlebensnotwendige Solidarität untereinander findet, ist dezent an den Rand gesetzt: nachdem Saïd und Hubert verhaftet, gequält und erniedrigt, dann aber wieder freigelassen wurden und im mondänen Stadtzentrum auch Vinz wiedergefunden haben, wandelt Saïd im Vorbeigehen mit der Sprühdose einen Werbeslogan ab: Die Welt ist nicht mehr "dein", sondern "unser": Miteinander, nicht getrennt können sie dem Morgen entgegensehen. Doch da flimmert über eine riesige Videowand die Nachricht vom Tod Abdels.

Es sollte ein Film gegen die Polizei werden, der seinen Ausgang in einem realen Ereignis nahm, als 1992 ein 18jähriger Jugendlicher während eines Verhörs auf dem Revier von einem Polizeibeamten durch einen Kopfschuß getötet wurde, ein Film, in dem sich die Bewohner der Trabantenstädte wiederkennen sollten, wie Kassovitz bekannte. Doch sein Film ist über Authentizität und Dokumentation hinaus weit mehr: eine lebensnahe Parabel über Gewalt und ihre Folgen, eine bedrängende, differenzierte Exkursion ins Innere des Hasses, aus dem es keinen Ausweg zu geben scheint, aber auch Anklage, die zum Handeln aufruft.
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