Drama | Frankreich/Deutschland 1995 | 111 Minuten

Regie: Claude Chabrol

Wortkarg, aber zuverlässig verrichtet ein neues Dienstmädchen im Haus einer gutsituierten Familie seine Arbeit. Aus der Freundschaft mit einer anderen jungen Frau - beide verbindet ihre dunkle Vergangenheit - entsteht eine unheilvolle Allianz. Alte Verletzungen, Neid und Hilflosigkeit lassen die beiden plötzlich Amok laufen. Distanziert beobachtend, ohne Erklärungs- oder Identifikationsangebote, beschreibt der kammerspielartig inszenierte Film die tragischen Folgen individueller Verhärmung und fehlender Verständigung. Dank pointierter Darstellung und Inszenierung beeindruckend, aber auch schockierend.
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Filmdaten

Originaltitel
LA CEREMONIE
Produktionsland
Frankreich/Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
MK2/France 3 Cinéma/prokino/Olga Film/Hallelujah/ZDF
Regie
Claude Chabrol
Buch
Claude Chabrol · Caroline Eliacheff
Kamera
Bernard Zitzermann
Musik
Matthieu Chabrol
Schnitt
Monique Fardoulis
Darsteller
Isabelle Huppert (Jeanne) · Sandrine Bonnaire (Sophie) · Jacqueline Bisset (Catherine) · Jean-Pierre Cassel (Georges) · Virginie Ledoyen (Melinda)
Länge
111 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Genre
Drama | Literaturverfilmung
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Diskussion
Auch wenn er als erbarmungsloser Beobachter des Bürgertums und seiner Schwächen gilt: Schwarzweißmalerei und eindeutige Feindbilder sind Claude Chabrols Sache nicht - weder im Gesellschaftlichen noch im Individuellen. Allzu leicht: wurden in seinen Filmen Opfer zu Tätern: Michel Bouquet in "Die untreue Frau", Michel Duchaussoy in "Das Biest muß sterben", Marie Trintignant als "Betty". Wie nahe Wahnsinn und bourgeoise Alltagszeremonien beieinander liegen können, zeigt er beispielhaft in seinen Porträts des Pariser Frauenmörders Landru oder des Hutmachers Labbé. Die Unterscheidung zwischen Schuld/Unschuld überließ er in seinem letzten Film "Die Hölle" ganz den subjektiven und krankhaften Visionen des männlichen Protagonisten - eine Erzählhaltung, die: wesentlich zur Beklemmung und Verunsicherung beiträgt. Dabei studiert Chabrol seine Figuren so genau und nimmt sie in ihren Schwächen so unmittelbar ernst, daß ihm immer wieder der Vorwulf von Kälte und Emotionslosigkeit gemacht wurde. Daß man dem Mitbegründer der Nouvelle Vague damit nicht gerecht wird, hat Peter W. Jansen im Hanser-Band zu Chabrol einleuchtend beschrieben. Auch "Biester" macht deutlich, daß hier einer mit großer Sensibilität zuschaut, "wie sich die Muskeln unter der Haut der Katze spannen".

Ist Sophies große Selbstsicherheit verantwortlich für ihr kühles Verhalten im Bewerbungsgespräch mit Madame Lelièvre - oder ist es tiefes Mißtrauen gegenüber anderen Menschen? Wortkarg und verschlossen äußert sich die junge Frau, die sich als Dienstmädchen bei der reichen Familie vorstellt. Nur als vom Gehalt die Rede ist, geht sie kurz aus sich heraus. Was ist los mit dieser Frau, die ihre Antworten emotionslos wie ein Automat von sich gibt, während sie ihre Arbeit zum Gefallen ihrer Arbeitgeber mit ebensolcher Präzision erledigt?

Im Hause Lelièvre verläuft das Zusammenleben offenbar problemlos. Die Ehe von Catherine und Georges funktioniert in routinierten Bahnen; man spricht sich aus, und wo es unterschiedliche Meinungen gibt, sucht man einen Kompromiß. Das Verhältnis zu den Kindern Melinda und Gilles ist überraschend offen, beide haben ihren eigenen Kopf und vermögen sich mit Charme und Witz auch mal gegen die Eltern durchzusetzen. Von der Spießigkeit, die das gediegene Ambiente vermuten lassen könnte, ist eigentlich keine Spur. Auch gegenüber Sophie, die gewohnt ist zu gehorchen und zu arbeiten ("Ja, Monsieur", "Hab verstanden"), ist die Familie durchaus freundlich und hilfsbereit. Sogar Fahrstunden und eine neue Brille werden ihr umstandslos offeriert. Melinda, die wohl positivste Figur des ganzen Films, unkompliziert und zupackend, rät Sophie, ihre Position ruhig ein bißchen auszunützen.

Die labile Balance Familie - Dienstmädchen gerät durch Jeanne, eine Postbeamtin aus dem nahegelegenen Ort, aus dem Gleichgewicht. Mit einigem Neid blickt sie auf die Familie und streut vor Sophies Augen und Ohren bösartige Gerüchte über sie aus (die im Film weder bestätigt noch ausdrücklich dementiert werden). Unruhig, undurchschaubar und immer auf dem Sprung stellt sie in ihrer Naivität gleichzeitig auch eine Bedrohung dar. Besonders zum Mißfallen Georges läßt sich Sophie von ihrer neuen Freundin überreden, gemeinsam in ihrem Dienstmädchen-Zimmer fernzusehen. Da sitzen sie denn eng beieinander, fast wie ein Liebespaar, und lassen sich von den Bildern in eine andere Welt entführen.

Die so sich langsam anbahnende unselige Allianz zwischen den beiden wird durch den Umstand bestärkt, daß beide in ihrer Vergangenheit eines Mordes verdächtigt wurden: Sophie an ihrem kranken Vater ("Sie konnten nichts beweisen!"), Jeanne an ihrer kleinen Tochter. Besonders für sie - schuldig oder nicht - scheinen die Lefièvres eine Art Feindbild darzustellen.

Mit gewohnter Sorgfalt und Distanz inszeniert Chabrol die Schatten und Folgen alter Verletzungen. Lange Zeit bleibt vieles im dunkeln, besonders Sophies Angst vor Büchern und ihre TV-Sucht, die ganz offensichtlich eine Flucht darstellt. Die Eskalation setzt ein, als Sophie und Melinda zufällig hinter das Geheimnis der jeweils anderen kommen: Sophie ist Analphabetin, Melinda von ihrem Geliebten schwanger. Während das Mädchen verständnisvoll reagiert und Hilfe anbietet, ist Sophie so erschüttert, daß sie sofort in eine Erpressung flüchtet: "Verrätst Du mich, verrate ich Dich!" Melinda aber vertraut sich ihrem Eltern an, Sophie wird entlassen und gerät endgültig unter den Einfluß Jeannes. Als die Lelièvres vor dem Fernseher einen TV-Opernabend zelebrieren, kommt es zu einer abgründig-schockierenden Exekutionssequenz. Hinterher zeigt Sophie, was sie kann: routiniert sorgt sie für "Ordnung" und verwischt die Spuren.

Obwohl Chabrol schon vorher andeutet, was am Ende stehen könnte (das Reinigen der Jagdgewehre bringt die späteren Tatwaffen früh ins Bewußtsein), läßt einen das Ende der Familie Lilièvre erschüttert zurück. Ohne eine Erklärung zu liefern - zumindest keine offensichtliche, und könnte es die geben? - läßt Chabrol den Zuschauer miterleben, wie zwei Menschen Leben auslöschen, um so ihre verlorenes Gleichgewicht wiederzufinden. Nichts entschuldigt diese Tat, der Film vermeidet jede Identifikation mit den Motiven der beiden Frauen und macht sie - wenn überhaupt - nur indirekt zu Opfern der Gesellschaft. Und die Lelièvres kann man kaum als unmittelbar Schuldige betrachten. Hier geht es vielmehr um einen grundsätzlichen Verlust an Verständigung zwischen, verkürzt formuliert, "Arm" und "Reich", eine Verhärtung der Fronten, die vom konkreten Anlaß losgelöst ist. In diesem Sinn scheint auch das Nietzsche-Zitat gemeint zu sein: "An den ehrbaren Menschen stoßen mich viele Dinge ab, und gewiß ist es nicht das Böse, das in ihnen ist." Das nämlich ist eine Eigenschaft, die man in allen Schichten antreffen kann.

"Biester" bestätigt Claude Chabrol einmal mehr als Meister des Kammerspiels mit minimalistischer Figurenkonstellation. Dem wenigen an Handlung steht eine innere Spannung gegenüber, die man nur in wenigen Filmen spürt. Wie unter dem Mikroskop statt vor einer Kamera geben alle Akteure eine beeindruckende Demonstration in Sachen zurückhaltender Darstellung. Und wie überzeugend die tragische Symbiose von Sophie und Jeanne gelingt, mag auch der Preis für die beste Hauptdarstellerin an Sandrine Bonnaire und Isabelle Huppert in Venedig zeigen.
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