Kalte Heimat - Leben im nördlichen Ostpreußen

Dokumentarfilm | Deutschland 1995 | 158 Minuten

Regie: Volker Koepp

Dokumentarfilm über die Menschen und die Landschaft Ostpreußens, der russischen Enklave zwischen Polen und Litauen, die bis 1945 der östlichste Zipfel Deutschlands war und jahrzehntelang von Ausländern nicht betreten werden durfte. Volker Koepp fragt nach dem Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität in dieser Region, wobei er die Natur in einer Art Urzustand beschreibt und sie einer "drohenden" Moderne gegenüberstellt. Ein sehr sinnlicher, leiser Film, der zugleich philosophischer Diskurs über Erdgebundenheit, Lebenskraft und -lust ist. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Dokfilm Babelsberg
Regie
Volker Koepp
Buch
Volker Koepp · Michael Elle
Kamera
Thomas Plenert
Musik
Mario Peters
Schnitt
Angelika Arnold
Länge
158 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Das erste Bild: ein Mann auf einem Pferdewagen, vor sich eine schnurgerade, asphaltierte Straße. Er aber schaut nach hinten, in die Kamera, oder zur Seite, in die Landschaft. Beide, Mann und Kamera, zeigen sich unbeeindruckt von einem vorbeirasenden roten Auto; es ist ihnen keinen Blick, keine Aufregung wert. Der Film, so führt diese Einstellung den Zuschauer ein, will sich viel Zeit lassen, bewußt viel Zeit für die Menschen und die Region, in der sie leben: Ostpreußen. Die russische Enklave zwischen Polen und Litauen, bis 1945 der östliche Zipfel Deutschlands - eine Gegend, die jahrzehntelang von keinem Ausländer betreten werden durfte.

Im Herbst 1993 begann Volker Koepp zu drehen; und er kehrte in jeder der folgenden drei Jahreszeiten hierher zurück. Die Kamera Thomas Plenerts schwenkt vom Meer auf die Klippen, sie entdeckt nahe der Gehöfte Schafe und Hunde, unzählige Krähen- und Storchennester - und einmal die rote Fahne, die zum Tag des Sieges neben ein Storchenpaar "gepflanzt" wurde. Die Bäume, oft vereinsamt auf weitem Feld, sind von den Spuren des Windes gezeichnet. Und wenn die Kamera nachts durch eine Allee fährt, nur spärlich von den Scheinwerfern des Autos angestrahlt, wirkt das wie die Reise in ein märchenhaftes Universum, ein unerforschtes poetisches Reich. Wie häufig in seinen Filmen ist die Landschaft bei Koepp das Tor zu den Herzen der Menschen. De Landschaft, das Klima, die Historie, die ihre Spuren an Hauswänden oder in Kirchenruinen hinterlassen hat, sind Wurzeln für das Wesen ihrer Bewohner. Zumal in Ostpreußen, das für jeden Dokumentaristen zum Glücksfall werden kann.

Volker Koepp läßt sich Lebensgeschichten erzählen, von Menschen aller Generationen, vor allem aber von alten Leuten. Der Film beginnt mit einem greisen Paar vor einer Holzhütte, beide sind krank, können nicht mehr selbst heizen. Der Mann nimmt zunächst Reißaus vor der Kamera, er hat Angst; in den 40er Jahren war er in sibirischen Straflagern, unter dem Verdacht, Stalin umbringen zu wollen.

Die Frau, eine jüdische Lehrerin, die ein paar Brocken deutsch spricht, nennt sich selbst eine "alte Aphrodite". Was für ein Leben: Ihre Schüler baten sie, mit ihnen nach Leningrad zu fahren, um Kunstschätze zu besichtigen. In jenem Moment fingen die Deutschen an, die Stadt zu blockieren. Bei einer Tagesration von 125 Gramm Brot hob die Lehrerin nun Schützengräben aus, gegen die Invasoren. Und in ihrer Jugend hatte sie "so gern eine Serenade des deutschen Schubert" gesungen.

Auf die Frage, welchem Volk sie angehöre, bleibt ihre Antwort unkonkret: geboren im polnischen Osten, aufgewachsen in Weißrußland, ihr Mann ist ein Ukrainer. Eine Sentenz, die direkt auf eines der Grundthemen in Koepps Film verweist: das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Nationalität. In Ostpreußen sind, zum großen Teil unter widrigen Umständen, nach 1945 Russen und Tadschiken angesiedelt worden; auch ein paar Deutsche blieben, nachdem ihre Landsleute vertrieben worden waren; dazu Litauer, Moldawier, Zigeuner, ein paar Polen. Was wird aus diesem Völkergemisch, wenn die "Moderne" über das Kaliningrader Gebiet hereinbricht? Noch wirkt alles wie in einem Urzustand, die Natur an vielen Stellen unberührt, die Dörfer sehen aus wie vor hundert Jahren, archaisch. Die einzige Kirche eines Ortes ist geschmückt für katholische, orthodoxe, protestantische Gläubige, "der Altar ist für alle", wie einer der Porträtierten sagt. Das Miteinander beruht oft auf praktischer Solidarität, auf Lebens- und Überlebenshilfe.

Aber der junge Arbeiter im Königsberger Dom spricht eine nicht ungefährliche Hoffnung aus: "Das Gebiet wird sich mit Deutschland vereinigen. Wir kommen zu Euch." Halbwüchsige wühlen in alten, zerfallenen Gotteshäusern nach Reliquien, die sie an deutsche Touristen verhökern. Und benutzen, jenseits jedes Gefühls von Pathetik, sowjetische Siegesdenkmale als Klettergerüste. "Sie haben den Krieg gewonnen, sie werden das hier niemals hergeben", sagt ein alter Mann, auf das künftige Verhalten der Moskauer Regierung angesprochen. Und eine junge Frau: "Einfache Leute berührt die Frage nicht. Sie wird von denen hochgespielt, die davon profitieren." Wieviel politisches Augenmaß wird in den nächsten Jahrzehnten nötig sein, um mit diesem Problem sensibel umzugehen: in Deutschland und in Rußland. Koepp braucht, um das Thema zu verdichten, übrigens kein Wort Kommentar. Er benötigt nur ein Bild, das Schlußmotiv des Films: Kinder auf einer Brücke, die im Eiswind zittern.

Wie immer in seinen Arbeiten gelingt es Voker Koepp auf erstaunliche Weise, die Menschen zum Reden zu bringen. Nur die wenigsten seiner Interviewpartner sind so wunderbare Selbstdarstellerinnen wie Edith, die mit voluminöser Stimme ein Lied vom schwarzen Zigeuner singt. Andere öffnen sich und die Kammern ihres Gedächtnisses vorsichtiger; nicht zuletzt, weil sie ahnen, welche Schmerzen ihnen das Erinnern bereiten wird. Reminiszenzen an die Greuel des Krieges und der Umsiedlung, den Tod der Kinder, die man auf der Flucht irgendwo am Wegrand verscharren mußte. Manchmal bleibt die Kamera auf den Gesichtern der Menschen, nachdem sie aufgehört haben zu erzählen. "Es ist doch egal, unter wem man arbeitet", meint eine russische Bäuerin mit vielen Orden an der Brust auf die Frage, was geschähe, wenn die Deutschen wiederkämen. Dann schweigt sie, und aus ihren Augen verschwindet plötzlich die Fröhlichkeit. Überhaupt ist das Schweigen, die Stille eine der Grundtugenden des Films. Über Minuten sind dann nur Geräusche der Natur zu vernehmen: so schön und eindringlich, wie sie zuletzt Joris Ivens in seiner "Geschichte des Windes" festgehalten hatte. "Kalte Heimat", zweieinhalb Stunden lang, ist ein sinnlicher Film - und zugleich ein philosophischer Diskurs über Erdgebundenheit, Lebenskraft und -lust abseits von Luxus und Streß. Ein Film, der nach der Vergangenheit fragt, die Gegenwart zeigt und auf die Zukunft verweist. Vielleicht der letzte dokumentarische Blick auf das "alte", abgeschiedene Ostpreußen.
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