Middle of the Moment

Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz 1995 | 79 Minuten

Regie: Nicolas Humbert

Artisten des französischen "Cirque O", Tuareg-Nomaden in der südlichen Sahara und der amerikanische Dichter, Clown und Philosoph Robert Lax werden in einem Hohelied auf das Nomaden-Dasein an sich zusammengeführt. In seinen stärksten Augenblicken vereint der Film hohen dokumentarischen bzw. ethnologischen Wert mit höchstmöglicher, fast intimer Nähe zum Alltag der Protagonisten. Er verzichtet auf exotisch-spekulative Motive und auf abgegriffene Dokumentarfilm-Konventionen. Leider haftet ihm durch die konstruierte Gleichsetzung grundverschiedener menschlicher Daseinsformen gelegentlich ein Moment der Koketterie an. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Cine Nomad/Balzli & Cie
Regie
Nicolas Humbert · Werner Penzel
Buch
Nicolas Humbert · Werner Penzel
Kamera
Chilinski
Musik
Fred Frith
Schnitt
Nicolas Humbert · Werner Penzel · Gisela Castronari
Darsteller
Robert Lax · Aghali ag Rhissa · Johann de Guillerm · Sandra M'Bow · Mutu walat Rhabidine
Länge
79 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Fünf Jahre lang hat man auf den neuen Film des Regie-Duos Nicolas Humbert / Werner Penzel warten müssen. Mit "Step Across the Border" (fd 28 227) hatten die beiden 1990 ein ungemein aufregendes Essay vorgelegt, in dessen Zentrum zwar der von musikalischen Einfällen überschäumende Gitarrist Fred Frith stand, das aber alles andere als ein bloßer Trittbrettfahrer-Film war. In "Middle Of The Moment" haben Humbert/Penzel gleich drei grundverschiedene Schauplätze miteinander verknüpft und sich den darin agierenden Menschen angenähert: die Artisten der französischen Zirkus-Truppe "Cirque 0" tingeln durch verschieden Städte Europas, Tuareg-Nomaden durchstreifen wie seit vielen hundert Jahren die südliche Sahara, Robert Lax schließlich ist amerikanischer "Dichter, Clown und Philosoph" (Presseheft). Was diese so unterschiedlichen Protagonisten eint, ist ihre Ruhelosigkeit, ihr Umherstreifen, ihre Verweigerung gegenüber urbanisierten Lebensformen. Selbstverständlich zählen sich auch die Filmemacher selbst zu dieser Spezies. Um zu diesem Schluß zu kommen, braucht man nicht den Namen ihrer Produktionsfirma ("Cine Nomad") zu kennen - aus jeder Einstellung spricht diese Perspektive. Der Nähe zum Gegenstand verdankt der Film seine schönsten Momente. Für die Beobachtung alltäglicher Verrichtungen und Rituale läßt sich die Kamera viel Zeit, verzichtet auf spektakuläre, auf bloße Exotik fixierte Momente. Sehr dicht wird hier der Zuschauer ins Geschehen einbezogen - das ist packendes Kino in der Tradition Robert Flahertys, gleichzeitig von fast intimer Atmosphäre und hohem dokumentarischem bzw. ethnologischem Wert.

Leider gehen diese unbestreitbaren Qualitäten des Films nicht immer in einer stimmigen Gesamtkonzeption auf. Daß "Middle of the Moment" kein rundweg gelungenes Werk geworden ist, resultiert aus einer gewissen Kopflastigkeit, mit der sich die Filmemacher mit ihrem sonst eher sinnlichen Ansatz selbst im Wege stehen. Bilder von der Nahrungszubereitung, vom abendlichen Sitzen am Feuer und naheliegenderweise immer wieder vom Unterwegs-Sein werden zwischen den drei Ebenen übergangslos verschachtelt - archaische Handlungen und Zustände, die eine globale Universalität und rudimentäre Aktualität des Nomadentums suggerieren wollen. Aber es ist z. B. ein entscheidender Unterschied, ob der Tuareg-Nomade im Wüstensand konzentriert eine Schnur knüpft oder der Wanderzirkus-Artist im Gegenschnitt dazu mit einer leeren Bierflasche jongliert. Die Entbindung eines Dromedar-Kalbs hier - Einparken des Caravans da. Auch bei den offensichtlich gestellten Szenen eines Streites zwischen Artisten ist es nicht die Inszenierung (das hat Flaherty auch getan), die unangenehm aufstößt, sondern die Gleichsetzung von Augenblicken des Zirkuslebens mit den existentiellen Handlungen der tatsächlichen Nomaden in Afrika. Denn letztere haben sich ihre Daseinsform nicht ausgesucht; Aufnahmen ihres täglichen Überlebenskampfes werden mit denen des "Cirque 0" allzu sinnfällig verschnitten und damit instrumentalisiert.

Noch schwerer nachvollziehbar ist die Einbeziehung Robert Lax'. Dieser lebt offensichtlich keineswegs nur auf Reisen: Bilder von Haus und Frau weisen ihn durchaus als domestiziert aus. Möglicherweise installierten Humbert / Penzel seine Person als Bindeglied zwischen den Nomaden von Raum und Zeit und denen des Geistes im Sinne Georges Deleuzes ("Das nomadische Denken), womit wiederum eine Brückenschlag zu den Filmemachern selbst hergestellt wäre. Aber dies bleibt spekulativ. An dieser Stelle offenbart sich jedoch ein weiteres Dilemma des Unterfangens. Im Presseheft und anderem Begleitmaterial wird "Middle of the Moment" wiederholt als "Kinogedicht" oder "Cinepoem" bezeichnet. Vom Gestus her bleibt der Film dieser Maßgabe durchaus treu, d. h. er geht mit sinnlicher Neugier vor, verzichtet auf konventionelle, didaktische Kommentare ebenso wie auf erläuternde Zwischentitel oder klassische Interview-Situationen. Anders als bei "Step Across The Border", wo sich die Persönlichkeit Fred Friths auf faszinierende Weise immer plastischer formte, bleiben in "Middle Of The Moment" die Fragmente jedoch als solche bestehen. Nun könnte man entgegenhalten, daß dies eine gewissermaßen nomadische Form des Filmemachens sei, die sich nicht festlegt, die allein von der Bewegung bzw. vom Hier und Jetzt der Wahrnehmung (von der Mitte des Augenblicks) lebt. Warum befleißigen sich die Autoren in besagtem Presseheft und diversen Handzetteln aber dann doch verbaler Erläuterungen? Tatsächlich sagt der Film selbst an keiner Stelle, um wen und was es sich bei den dargestellten Motiven eigentlich handelt (unerheblich, daß Robert Lax unbekannt ist) - dies ist ausschließlich aus dem Begleitmaterial zu erfahren, das man vor Ansicht des Films also kennen müßte. Ein Film aber muß noch immer für sich selbst sprechen. Erst recht ein "Kinogedicht".
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