Noorderlingen

- | Niederlande 1992 | 108 Minuten

Regie: Alex van Warmerdam

Eine niederländische Mustersiedlung Anfang der 60er Jahre: Die scheinbar glücklichen Bewohner offenbaren einen Mikrokosmos an Neid, Verschlagenheit, sexueller Frustration und bigotter Doppelmoral. Im Mittelpunkt der episodischen Handlung die Frau eines Metzgers, die nach einer Heiligenerscheinung ein Hungergelübde ablegt und dadurch ihr Haus in einen Wallfahrtsort verwandelt. Eine bissige Realsatire auf eine sorglose Mittelstandsgesellschaft am Rande des moralischen Ruins, die bei aller Schärfe nie boshaft wird. (O.m.d.U.; TV-Titel: "Die Noorderlinger") - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DE NOORDERLINGEN
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
First Floor Features
Regie
Alex van Warmerdam
Buch
Alex van Warmerdam
Kamera
Max Felperlaan
Musik
Vincent van Warmerdam
Schnitt
René Wiegmans
Darsteller
Leonard Lucieer (Thomas) · Jack Wouterse (Jacob/Metzger) · Rudolf Lucieer (Anton) · Alex van Warmerdam (Simon/Briefträger) · Annet Malherbe (Martha)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Die Niederländer - "De Noorderlingen" - übertreiben den Hang zum Normalen maßlos bis ins Monströse: Eine groteske Kontradiktion, die diese tragikomische Realsatire in so alltäglichen wie aberwitzigen Situationen auf die Spitze treibt. "Werd' endlich wieder normal!", fleht denn auch der Fleischermeister treuherzig wutentbrannt seine aus heiterem Himmel zur märtyrerhaften Kostverächterin veränderte Frau an. Vergeblich, denn deren Konversion zur abstinenten (Schein-) Heiligen schreitet radikal voran. Dabei begann alles anscheinend harmlos und überaus hoffnungsfroh. Wie bei jener glückstrahlenden Kleinfamilie auf der überlebensroßen Plakatwand, für die man einst bereitwillig Modell stand und die nun noch immer das Ortsbild der nie fertiggestellten Mustersiedlung ziert und damit unfehlbar kommentiert. Man schreibt den Sommer des Jahres 1960, in irgendeiner dieser so akkuraten wie anonymen Satellitensiedlungen. Ein buchstäblich in den Sand gesetztes Beispiel vermeintlich idealer Stadtplanung, das den zufällig zusammengewürfelten Kolonisten (regelrechte "Matched groups") so ziemlich alles bietet - außer Gemeinschaftsgefühl und ein behütetes Zuhause. Alles wäre dort also in schönster Ordnung, brächten die Bewohner mit allerlei Eigenheiten und Eitelkeiten den paradiesischen Spielplatz nicht immer wieder unfreiwillig durcheinander. Der Metzger, ein potenter Poltergeist, paßt so gar nicht zu seiner üppig-verführerischen, doch abweisenden Frau.

Dem ständigen Ehekrach entflieht der zwölfjährige Thomas, kostümiert als Premier Lumumba aus dem ex-kolonialen Kongo, radelnd zum nahen Waldrand. Dort trifft er auf den Postboten, der sich insgeheim mit dem intimen Inhalt der Briefe vertraut macht. Das dabei verursachte Rauchzeichen ruft prompt den Förster auf den Plan, der dafür sogar seine auf Nachkommen versessene Partnerin im Stich läßt, den Postboten ausgerechnet beim Durchstöbern eines Pornoheftchens erwischt und schließlich hinter Gitter bringt. Wie jeden Sonntag geht es mit dem Bus zur Messe. Wie immer bleibt das Fehlen des Fleischers sowie der Förstersfrau keineswegs unbemerkt, was nicht ganz unbegründet zu gezielten Gerüchten Anlaß gibt. Eines Tages tauchen zwei Missionare auf, deren prächtigstes Schaustück - ein Neger im Baströckchen - ihnen jedoch entwischt und bei Thomas Unterschlupf findet. Auf der Pirsch nach dem Neger erschießt der kurzsichtige Jäger versehentlich die vagabundierende Agnes und versenkt deren Leiche im Waldteich, woraufhin der Entflohene den Förster mit Blindheit schlägt. Derweil hat die Fleischersfrau Visionen im Angesicht der zeitweise leibhaftigen Statue des hl. Franziskus und verweigert fortan, sehr zum Leidwesen des Metzgers, jegliche Nahrung. Ein Martyrium, das ihr Haus unverhofft zum Wallfahrtsort werden läßt. Am Ende verläßt die Förstersfrau ihren unglücklichen Schützen, der lächelnd im Walde erfriert. Die Nachrichten melden die Ermordrung Lumumbas ... und der Postbote kehrt endlich aus der Haft zurück.

Alex vam Warmerdam (Jahrgang 1952) zeichnet in seinem zweiten, 1992 mit dem "Felix" für den besten jungen europäischen Film ausgezeichneten Werk eine soziale Satire auf den zweifelhaften Aufbaugeist der Nachkriegszeit mit seiner verschrobenen puritanisch-calvinistisch-katholizistischen Moralmischung. Ein hyper-realistisches Alltagsbild kleiner Gemeinheiten hinter vorgetäuschter Gleichmütigkeit, gespeist aus einer Fülle vor allem sexueller Frustrationen, die letztlich hemmungslos über Leichen geht. Die Bewohner der einzigen, von standardisierten Reihenhäusern gesäumten Straße der sterillen Retortensiedlung leben abgeschieden am Rande eines finsteren Waldes, wo Post und Radio die einzigen Kontakte zur Außenwelt bilden. Der schöne Schein läßt Schreckliches ahnen und tatsächlich lauern hinter den (in den niederländischen Nationalfarben) horrend polierten und transparenten Fassaden Unglück, Mißgunst und Leid. In prägnanten, an losen Handlungsfäden aufgereihten Episoden enthüllen die comicartigen Charaktere tragikomische Züge. Allesamt Meister im Verheimlichen und Vertuschen, agieren die Protagonisten wie Marionetten in ihrem gut aufgeräumten Puppenstuben-Panoptikum, dessen 60er-Jahre-Interieur sich unweigerlich selbst ironisiert. Eine materiell sorglose Mittelstandsgesellschaft am Rande des moralischen Ruins, mit geradezu lächerlichem Ernst um ehrenhafte Erscheinung und vorteilhafte Selbstinszenierung bemüht. Dabei verwandelt die - vermutlich autobiografische - Perspektive des abtrünnigen Jungen bzw. des sympathisch sonderbaren Postboten (gespielt vom Regisseur) den Zuschauer zum vergnügten Voyeur in zumeist ruhiger Distanz zum Objekt der beobachteten Begierden, als ob es sich um die Vivisektion einer seltsamen Spezies handelt. Das enthebt die detailverliebte Observation gesellschaftlicher Konventionen (einschließlich der institutionalisierten Kirche) aller hermetischen Bedeutungsschwere und bewahrt die bitterböse Familienfarce vor billiger Boshaftigkeit. Die klare, oft frontal-starre Kamera mit gelegentlichen, das ebene Gelände überblickenden Vertikalschwenks bei voller Ausleuchtung der Szene unterstreicht das Theatralisch-Bühnenhafte der Inszenierung, das kammermusikalisch sparsam kontrapunktiert wird. Die blitzsaubere Scheinwelt spiegelt unfehlbar das seelische Chaos, wie die übersichtliche Mustersiedlung vom undurchdringlich geheimnisvollen (Märchen-)Wald, dem Refugium offen gezeigter Gefühle, unweigerlich in den Schatten gestellt wird. Am Ende zieht sich die Kamera in einer langen Einstellung wieder in den Wald zurück und überläßt die Personen ihrem Schicksal: Holland en miniature.
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