Die dunkle Seite des Herzens

Drama | Argentinien/Kanada 1992 | 127 Minuten

Regie: Eliseo Subiela

Bei einem Aufenthalt in Montevideo, wo er sich gelegentlich als Werbetexter verdingt, stößt der Lyriker Oliviero auf die Prostituierte Ana - und erkennt in ihr eine Seelenverwandte, die langersehnte Frau, "mit der man fliegen kann". Doch zu groß ist der Ballast, den beide mit sich herumtragen, zu eng sind die Rollenklischees, um endgültig aufeinander zuzugehen. Ein sinnlicher, poetischer und intelligenter Film, bei dem die zahlreich rezitierten Gedichte zum tragenden und prägenden Moment werden: Indem die Grenzen zwischen Realität und Imagination verschwimmen, hebt sich die Logik von Raum und Zeit auf und schafft einen neuen, einen eigenen Erzählkosmos. Eine Hommage an den "magischen Realismus" Lateinamerikas, ein eigenständiger Beitrag dazu. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
EL LADO OSCURO DEL CORAZON
Produktionsland
Argentinien/Kanada
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
CQ3/Max Films/Argentinisches Institut für Kinematographie/Telefilm Canada
Regie
Eliseo Subiela
Buch
Eliseo Subiela
Kamera
Hugo Colace
Musik
Osvaldo Montes
Schnitt
Marcela Sáenz
Darsteller
Darío Grandinetti (Oliverio) · Sandra Ballesteros (Ana) · Nacha Guevara (Der Tod) · Jean Pierre Reguerraz (Gustavo) · André Mélançon (Erik)
Länge
127 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Melodram
Externe Links
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Diskussion
Oliviero hält sich aus geschäftlichen Gründen in Montevideo auf: er verkauft hier Werbetexte an eine ortsansässige Agentur. Eigentlich wohnt er am anderen Ufer des Rio de la Plata, in Buenos Aires, und versteht sich als Dichter. Unablässig reflektiert er seine Befindlichkeiten in lyrischen Sentenzen, die er wie Mantren von sich gibt, gelegentlich auch im Straßenverkauf feilbietet oder am Imbißstand gegen Steaks eintauscht. In einem Nachtclub Montevideos nun stößt er auf die Prostituierte Ana. In ihr erkennt er eine Seelenverwandte, eine Frau, mit der man möglicherweise „fliegen kann“. Sie ist ihm nicht nur in erotischer Hinsicht eine Verheißung, sondern überrascht auch durch ihre Belesenheit. Doch: zu viel Ballast schleppen beide mit sich herum, als daß sich das Ideal der perfekten Verbindung realisieren ließe. In Ellipsen gegenseitiger Annäherung und Entfernung (Bewegungen, die wohl nicht zufällig an die des Tangos erinnern) belauert sich das Paar, teilt sich zuletzt wieder in zwei Einsamkeiten, die, jede für sich, erneut auf die Suche gehen.

Gedichte spielen in „Die dunkle Seite des Herzens“ eine maßgebliche Rolle, ja sie sind allgegenwärtig. Dies zeigt sich nicht nur darin, daß in langen Rolltiteln des Abspanns auf die zahlreichen poetischen Zitate (u.a. von Dylan Thomas, Oliviero Girondo und Carlos Onetti) hingewiesen wird – so wie sonst auf die angespielten Musikstücke. Mario Benedetti spielt sogar leibhaftig mit, spricht auf Deutsch (!) einige seiner Verse. Mehr noch: in fließenden Grenzen zwischen innerem Monolog und direkter, handlungsbedingter Rede verwischen sich die herkömmlichen Grenzen des Filmtextes. Entsprechend diesem Prinzip entwirft Eliseo Subiela seinen Film selbst wie ein Gedicht, wechselt von realistischer Erzählweise übergangslos ins Phantasmagorische, hebt die Logik von Raum und Zeit auf und schafft einen neuen, einen eigenen Erzählkosmos – ein Bekenntnis zum „magischen Realismus“ eines Gabriel Garcia Marques oder Angel Miguel Asturias. Surreale und naturalistische Momente tragen die Atmosphäre gleichberechtigt. Die allegorische Figur des Todes z.B., eine schwarzgewandete Frau in den besten Jahren, tritt immer wieder unvermittelt in die Szene, agiert wie selbstverständlich in den dokumentarisch aufgenommen Schauplätzen. Neben dem Spiel mit dem Fantastischen ist es das hohe Maß an Selbstironie, das dem Film seine eigene Handschrift verleiht. Olivieros „Machismo“, dem er gemeinsam mit zwei Freunden huldigt, wird durch diese Perspektive relativiert und überhaupt erst erträglich. Letztlich wird er zum Opfer dieses Rollenklischees: ein kindgebliebener Träumer, dessen Rastlosigkeit auch Ausdruck einer Flucht vor sich selbst ist. Durch ein raffiniert gestricktes Ende nebst Überraschungseffekt gelingt es der Inszenierung, eine vordergründige Wertung zu umgehen. Alles bleibt offen, alles geht weiter, allerdings auf einer höheren Ebene. Gemein ist dem Regisseur und seinem Helden das fast grenzenlose Vertrauen in Poesie und Imagination, die Einsicht, „daß ein Bolero bedeutender für die Menschheit ist als die Marseillaise, die Internationale und all die anderen Hymnen“. Obwohl „Die dunkle Seite des Herzens“ mehrfach preisgekrönt ist, und dies völlig zu Recht, gelangt der Film erst fünf Jahre nach seiner Premiere auf die hiesigen Leinwände. Dabei teilte schon „Letzte Bilder eines Schiffsbruchs“ (fd 30 348), Subielas vorhergehende Arbeit, ein ähnliches Schicksal. Immerhin fanden beide Filme überhaupt ihren Weg ins Kino. Irgendwie ein beruhigendes Gefühl, daß „kleine“ Filmländer trotz widriger materieller Umstände vor Ort immer wieder an ihre langen Traditionen ästhetischer Autonomie anzuknöpfen vermögen. Beruhigend andererseits, daß sich hierzulande noch Enthusiasten finden, die sich derartiger Produktionen annehmen. Es lohnt sich, und dies wiederum in rein ideeller Hinsicht.
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