Paradshanow - ein Requiem

Dokumentarfilm | Deutschland/USA 1994 | 57 Minuten

Regie: Ron Holloway

Der Journalist und Filmhistoriker Ron Holloway nähert sich dem Leben und Werk des armenischen Cinéasten Sergej Paradshanow (1924-1990). Interviewsequenzen von 1988, Filmausschnitte, Fotos und Videobeobachtungen werden zu einer schlüssigen Biografie verdichtet, die von Anekdotischem ausgehend zum Wesen von Kunst vordringt. Ein faszinierender Nachruf auf einen Regisseur, dessen visionäres Oeuvre sich nie dem Kanon des sozialistischen Realismus beugte, und der in der Sowjetunion immer wieder behindert wurde. (O.m.engl.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland/USA
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
KINO-Productions/Ö-Film
Regie
Ron Holloway
Buch
Ron Holloway
Kamera
Thomas Schwan
Musik
Urmuli Folklore
Schnitt
Monika Schindler · Walther Vögele
Länge
57 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Du kannst es nicht auf der Filmhochschule lernen. Du mußt damit geboren werden." Der Mann mit den buschigen schwarzen Augenbrauen und dem schlohweißen Bart fügt seine Worte wie ein Testament: Regisseur zu sein, bedeutet für ihn, Visionen in Bilder zu fassen, zu suggestiven Tableaus jenseits des "Schwatzkinos". Und sich damit immer wieder auf die eigenen Wurzeln zu besinnen: die Eltern, die Heimat, die Träume. - Zwei Jahre vor seinem Tod gab der Armenier Sergej Paradshanow, der 1924 geboren worden war, wichtige Filme in der Ukraine drehte und 1990 in Jerewan starb, Auskunft über sein Leben. Jetzt hat Ron Holloway das während des Münchner Filmfests aufgenommene Material zu einem Requiem verdichtet: eine Reise in die Motiv- und Gedankenwelten des bedeutenden Cinéasten.

Paradshanow erinnert sich: zum Beispiel an die Lehrmeister der Moskauer Filmhochschule. Schon bei der Diplomabnahme seiner ersten Arbeit, des Kinderfilms "Andrijesch" (1955), geschah ein kleines Wunder. Alexander Dowshenko, der ukrainische Kinopoet, wünschte sich begeistert, dieses Debüt ein zweites Mal anschauen zu können - das einzige Mal in der langen Geschichte des WGIK, daß so etwas passierte. Auch von einem anderen Lehrer, Igor Sawtschenko, weiß Paradshanow eine bezeichnende Anekdote zu berichten: Wenn dessen Studenten ihre ersten Regiekontrakte unterzeichnet hatten, lud er sie in seinen Mercedes, fuhr sie auf dem Moskauer Gorki-Boulevard spazieren und kaufte ihnen Socken für die "nackten" Füße - so nahm er teil an ihrem Glück, keine Schüler mehr, sondern vielleicht schon bald Meister zu sein ...

Sawtschenko war es auch, der die Studenten dazu anhielt, neben ihrer Filmarbeit zu zeichnen. Für Paradshanow wurde die Malerei ein Lebenselixier; auch darüber reflektiert er in Holloways Film. Als er wegen Kunstschmuggel, Devisenhandel und Homosexualität verhaftet worden war ("Ich soll 340 Kommunisten vergewaltigt haben ..."), gewann er aus dem Malen Kraft: "Ich hatte nur eine Alternative: unterzugehen oder Künstler zu werden." Im Gefängnis und Straflager faßten die Mithäftlinge Vertrauen zu ihm. Und sie erzählten ihm ihre Biografien; er avancierte gleichsam zu ihrem Beichtvater. "In meinem Kopf", erinnert sich Paradshanow, "wurden diese Geschichten zu einer riesigen Sammlung von Novellen, Poemen und Stücken. Vier davon plane ich bald zu verfilmen".

Sergej Paradshanow hätte allen Grund gehabt, vor der Kamera seine Verbitterung herauszuschreien: auf Grund der langjährigen Haft, aus der ihn nicht zuletzt die internationale Solidarität von Künstlern - Louis Aragon, Elsa Triolet oder John Updike - zu befreien half. Haßerfüllt hätte Paradshanow aber auch wegen der ideologischen Barrieren sein können, auf die er in der Sowjetunion immer wieder stieß. Die Gralshüter des sozialistischen Realismus warfen ihm, dem Visionär, regelmäßig vor, er sei ein Surrealist, der die gesellschaftlichen Strukturen nur als Chimäre betrachte. Wäre es bei verbalen Attacken geblieben, man hätte sie belächeln können - aber ein Filmemacher bedurfte für seine Entfaltung der Gunst der staatlichen Obrigkeit. Und die wurde Paradshanow jahrelang verwehrt: Sein Oeuvre geriet so zum Torso. Dennoch stellt er sich nicht als Märtyrer dar. Stattdessen geht von ihm ein Gefühl von Güte und Weisheit aus: Schönheit, die von innen leuchtet.

Holloway montiert zwischen die Interviewpassagen diverse Privatfotos, dazu Videobeobachtungen von Auftritten Paradshanows in München oder Venedig, vor allem aber Ausschnitte aus den elf Filmen des Regisseurs. Darunter aus jenen Werken, die, seit "Schatten vergessener Ahnen" ("Teni sabytych predkow", 1965), seinen legendären Ruf begründeten. Aufschlußreich einige Reminiszenzen an Produktionsbedingungen: Für "Die Farbe des Granatapfels" ("Sajat Nowa", 1969) etwa standen Paradshanow weder Kodakmaterial noch Kameras für Spezialeffekte zur Verfügung, die Wirkung des phantastischen, stark stilisierten Märchens kam einzig aus der "absoluten Einfachheit". Darin fühlte sich der Regisseur seinem großen Vorbild verwandt: Pasolini, "ein Gott". "Kerib, der Spielmann" ("Ashik Kerib", 1988) aber, den Paradshanow den Kindern der Welt widmete, hatte für ihn eine besondere Bedeutung: "Gerade nach diesem Film möchte ich sterben, weil ich ihn über alles liebe." Dämmerte in Paradshanow die Ahnung, daß ihm eine schwere Krebskrankheit diesen merkwürdigen, sentimentalen Wunsch erfüllen würde? Zumindest hatte er, als er ihn äußerte, noch große Pläne. In Deutschland wollte er sich um eine Verfilmung des "Faust" bemühen, dessen Kenntnis er als unbedingt notwendig für die heranwachsende Generation ansah. In den USA interessierte ihn die Adaption einer alten Indianerlegende, "Hiawatha". Beide Projekte blieben vage; die Hoffnung, Geldgeber zu finden, schien gering. Bezog sich seine Interviewsentenz über den Tod vieler Gleichaltriger - zum Beispie] Tarkowskij - nicht also auch auf ihn selbst: "Ich betrachte es als eine große Tragödie, daß viele Meister früh sterben, ohne ihre Kreativität ganz entfalten zu können"? Holloways "Requiem", das leider schon nach einer Stunde zu Ende ist, macht Lust auf die (erneute) Begegnung mit Paradshanows Werken. Mit ihrer kraftvollen archaischen Metaphorik, ihrer gedanklichen und formalen Opulenz dürften sie heute erst recht als Fremdkörper in einer von Hollywood dominierten, weitgehend illustrativen Kinowelt wirken. Dennoch oder gerade deshalb bleiben sie unvergeßlich.
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