Chungking Express

- | Hongkong 1994 | 102 Minuten

Regie: Wong Kar-wai

Zwei Liebesgeschichten aus dem Moloch Hongkong: Zunächst begegnet ein melancholischer Polizist, der von seiner Geliebten verlassen wurde, einer in diverse Verbrechen verstrickten Frau, danach verändert eine in einem Schnellimbiß arbeitende junge Frau heimlich das Leben eines weiteren Polizisten. Mit außergewöhnlicher Souveränität verwandelt der Film die vage skizzierten Handlungsvorlagen zu seismografisch genauen Stimmungsbeschreibungen: Momente der Sehnsucht, des Verlorenseins und der Entfremdung fangen einerseits meisterhaft den Charakter der Stadt ein, verdichten andererseits die Genre- und Lebensbilder zu Szenen von kunstvoller Poesie. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
CHONGQING SENLIN | CHUNGKING EXPRESS
Produktionsland
Hongkong
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Jet Tone Prod.
Regie
Wong Kar-wai
Buch
Wong Kar-wai
Kamera
Christopher Doyle · Law Wai-keung
Musik
Frankie Chan · Roel A. García
Schnitt
William Chang · Hai Kit-wai · Kwong Chi-Leung
Darsteller
Brigitte Ching-Xia Lin (Frau ohne Name) · Takeshi Kaneshiro (Nummer 223/Ho Chi Wu) · Tony Leung Chiu-wai (Nummer 663) · Faye Wang (Faye) · Valerie Chow (Stewardess)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
Kinowelt/Arthaus (16:9, 1.78:1, DD2.0 kanton./dt.)
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Diskussion
Leben und Lieben im Hongkong der späten 90er Jahre. Die Stadt definiert sich in zahllosen Geschichten, die sich alle gleichzeitig ereignen, sich kurz berühren und überschneiden, bevor sie wieder eigene Wege einschlagen. Der Film legt eine Lupe über einige Menschen in dieser Stadt, verbindet lose Fäden zu zwei aufeinanderfolgenden Episoden. Was alles aber wirklich zusammenhält, sind Stimmungen, Emotionen, Momente der Sehnsucht, des Verlorenseins, des Blues. Eine Frau ohne Namen ist in dubiose Rauschgiftgeschäfte verwickelt. Sie engagiert indische Einwanderer als Drogenkuriere, wird betrogen und ist dem Zorn ihrer Auftraggeber ausgeliefert. Dabei spielt ein Amerikaner eine Rolle; er könnte ihr Boß und Geliebter ein, der sich nun mit einer anderen abgibt, bevor er am Ende tot ist. Endlich kreuzt sich der Weg der Frau ohne Namen mit dem eines Polizisten mit der Dienstnummer 223, der nachts seinen Dienst tut und Verbrecher jagt. Das ist aber nur ein Job, seine eigentliche Profession ist seine Melancholie: seine Geliebte namens May hat ihn verlassen, seitdem kauft er Ananasdosen mit Verfallsdatum auf dem 1. Mai. Er sinniert über den Verfall und beschließt, sich in die erste Frau zu verlieben, die zur Bartür hereintritt.

Wenig später verläßt der Film abrupt diese Geschichte; nie wird man erfahren, wie sie zu Ende geht. Dafür springt er in eine andere, in der es wieder um einen Polizisten (mit der Dienstnummer 663) geht, der in eine andere seltsam-bizarre Liebesgeschichte verwickelt wird. Während er noch über seine Affäre mit einer Stewardess sinniert, schleicht sich unbemerkt Faye in sein Leben. Die junge Frau mit 60er-Jahre-Kurzhaarfrisur arbeitet im Schnellimbiß eines Verwandten, wo sie die Wirklichkeit rigoros "abschaltet", indem sie mit aller Lautstärke immer denselben Song hört: "California Dreamin'". Als Faye in den Besitz eines Schlüssels zum Appartement des Polizisten gelangt, zieht sie in seiner Abwesenheit ein, räumt auf, verändert schrittweise die Dinge in seinem Leben. Es dauert lange, bis er die Veränderungen überhaupt wahrnimmt, nimmt sie zunächst eher philosophisch. Bis Faye und der Polizist endlich zueinanderfinden, vergeht viel Zeit. Alles verändert sich, und doch sind die Gefühle noch dieselben. Ein Tag machte keinen Unterschied, mag die Zeit noch so unerbittlich rasen.

Manchmal kann das Umspringen einer Minute hin zu einem neuen Tag einem akustischen Erdbeben gleichkommen. Die Welt scheint dann aus den Fugen zu geraten, auf einen Abgrund zuzurasen. Zwar stehen die Häuser Hongkongs noch, fährt die U-Bahn, gehen die Menschen ihrer gewohnten Tätigkeit nach, aber die Wahrnehmung dieses Alltags ist getrübt. Der Blick der Kamera auf diese Welt ist unruhig, ja hektisch, findet keinen Halt in den Geometrien der urbanen Ordnung, die Räume kippen, stehen manchmal wortwörtlich kopf. In einem Moment rast die (Hand-)Kamera durch die engen Gassen um den labyrinthischen Chungking-Gebäudekomplex, und nur noch die zentrale Person des Polizisten, dem sie im Laufschritt folgt, hat einigermaßen scharfe Konturen, während sich alles andere in Streifen und Schlieren auflöst. Im nächsten Moment aber vermag dieser Aufruhr völlig in sich zusammenzubrechen, wird quasi auf inneren Knopfdruck abgeschaltet: die Begegnung einer Frau und eines Mannes wird von beiden als ein Moment absoluter Stille wahrgenommen, und während sich die Bewegungen der beiden verlangsamen, rasen die Menschen um die Protagonisten um so schneller als Masse weiter und gehen ihrer Wege.

Ruhepunkte aber sind eher selten, ein wahrer Luxus, und nur der lakonische Off-Kommentar der Personen signalisiert etwas Distanz zum eigenen Alltag. Ein wenig erinnert er an die teils philosophischen, teils ironischen Statements der amerikanischen 40er-Jahre-Detektive - und wie diese hat auch "Chungking Express" seine Tradition in einer Art Pulp Fiction: die Welt Hongkongs zerfällt in eine Vielzahl autonomer Segmente, die Menschen existieren darin in isolierten Mikro-Universen, wobei sie ihre Eigentümlichkeiten und Marotten ausleben, um sich in einer multikulturellen und multivalenten Welt ohne soziales oder kommunikatives Zentrum zumindest die Illusion der Individualität zu bewahren. Die Frau ohne Namen will nicht Perücke, Sonnenbrille und Trenchcoat ablegen, sie trägt sie als Insignien ihrer kriminellen Tätigkeit, als Schutz auch vor der Wirklichkeit, vor sich selbst. Erst am Ende der ersten Episode, nachdem sie einen Mord begangen hat, huscht sie aus dem Bild, und ganz am Rand fängt die Kamera noch ein, wie sie sich die Perücke herunterreißt. Doch wie sie darunter aussieht und wer sie "wirklich" ist, das bleibt dem Kameraauge verborgen.

Grundsätzlich sind die Wahrnehmungen des Films sowie seiner Figuren extrem subjektiv, und wie sich die Menschen aus dem chaotischen Charakter des sich verselbständigen Molochs Hongkong das herausgreifen, was sie (über-)leben läßt, das bestimmt auch die Erzählweise Wong Kar-wais. Mit außergewöhnlicher filmtechnischer Souveränität komponiert er diesen inneren Kosmos, spürt seismografisch exakt den Befindlichkeiten nach, wobei wie selbstverständlich Kino und Wirklichkeit zugleich existieren, von- und miteinander leben. So ist "Chungking Express" sowohl subtile (sozialpolitische) Beschreibung der Entwicklung Hongkongs, als auch Meditation über Entfremdung und Vereinsamung, bei der alle Grenzen zwischen filmischen und musikalischen Genres fallen und Teil einer eigenen "Wirklichkeit" (bzw. deren subjektiver Wahrnehmung) sind: tieftrauriges Liebesdrama und hochamüsante Komödie, Gangstermelodram und Actionstory, "Shanghai Blues" (fd 30 437) und "Außer Atem" (fd 9287) in einem. Nicht nur die Bilder sind es, die die Faszination des Films ausmachen; genauso sind es die verrückten Menschen, die bei aller Exzentrik liebenswert und sympathisch sind, (Über-)Lebenskünstler, zerbrechlich, empfindsam. Wenn sie in die Jukebox kriechen, um der Musik zu folgen, wenn sie joggen, um mit den Körpersäften auch die Tränen aus dem Körper zu pressen - dann ist der Film nur noch eins: pure Poesie.
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