Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow

Dokumentarfilm | Deutschland 1995 | 145 Minuten

Regie: Barbara Junge

Der 13. Dokumentarfilm über die "Kinder von Golzow". Erzählt wird, vorwiegend chronologisch, mitunter aber auch mit pointiert montierten Rückblenden, die Lebensgeschichte des Agrotechnikers Willy von der Schuleinführung 1961 bis zur Mitte der 90er Jahre. Das Porträt eines "durchschnittlichen" Arbeiters aus dem Oderbruch weitet sich in vielen Szenen zu einem zärtlichen, mitunter auch komischen, durch den Kommentar oft ironisch gebrochenen Alltagsbild der DDR abseits propagandistischer Verklärung. Formale Schwächen - die Überdeutlichkeit mancher Autorentexte oder die fehlende Konzentration am Ende des Films - schmälern das Vergnügen nur wenig. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
á jour Filmprod./ORB/NDR
Regie
Barbara Junge · Winfried Junge
Buch
Barbara Junge · Winfried Junge
Kamera
Hans-Eberhard Leupold · Harald Klix · Hans Dumke · Wolfgang Randel · Wolfgang Dietzel
Musik
Gerhard Rosenfeld · Kurt Grottke
Schnitt
Barbara Junge
Länge
145 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Ich möchte mal wissen, warum man lernen muß, sagt Willy und grinst in die Kamera. Mit 11 interessiert ihn durchaus anderes, als Tag für Tag in der Schulbank zu sitzen. Draußen in der Natur geht es weit lebendiger zu. Drinnen muß der Langeweile mit allerlei Nebenbeschäftigung begegnet werden. Willy beweist sich als der Clown der Klasse, als lustiger Raufbold, der schon mal sein Aufsatzheft zu Hause vergißt und das Frühstück gleich dazu.

Aber der Junge ist nicht nur ein Hans-guck-in-die-Luft, er hat durchaus Vorstellungen von seiner Zukunft. Mit 14 spricht er davon, auf einem Fischkutter um die Welt zu schippern; wieder sehnt er sich nach dem Ausbruch aus dem Alltäglichen. Mit 18 sind die Haare so lang wie im Westen bei den Hippies. Zwei Jahrzehnte später ist von den Träumen wenigstens die Erinnerung geblieben. Willy, zweimal verheiratet, dreimal Vater, fährt auf einem Lastkraftwagen durch die Ex-DDR. Er entsorgt, was nicht mehr gebraucht wird. "Ist ja eine Sache mit Zukunft, das Abfahren von Müll", kommentiert der Regisseur. Und fragt Willys erwachsene Söhne, ob auch sie jemals daran gedacht hätten, zur See zu fahren. Worauf nur die kurze Antwort kommt: "Nee ..."

Winfried Jungt; hat 1961 zum ersten Mal in Golzow gedreht, einem Dorf im Oderbruch.

Daraus wurde seine Obsession - und eine Legende: Junges Golzow-Filme sind inzwischen die längste Langzeit-Beobachtung der Kinogeschichte. Als sich das Projekt bei der Defa etabliert hatte und auch die Studioleitung davon überzeugt war, die einstigen Golzower Schüler bis zur Jahrtausendwende mit der Kamera zu begleiten, geschah das mit dem Hintergedanken, 1999, zum 50. Jahrestag der DDR, "fertige Sozialisten" vorzuführen. Heute haben die Golzow-Filme den einstigen propagandistischen Anspruch, den rosaroten Optimismus der Ulbricht-Ära weit hinter sich gelassen; sie sind berührende, authentische Lebensgeschichten und ein einmaliges politisches und soziologisches Material: Junge und seinen Kameramännern gelang es tatsächlich, dem Leben bei der Arbeit zuzusehen.

In seinen Arbeiten, vor allem in den vierstündigen "Lebensläufen" (1980) und seit 1994 auch in den Einzelporträts, dringt Junge in biografische Tiefenschichten vor: wie in "Das Leben des Jürgen von Golzow" (1994) forscht er auch in "Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow" nach den Urgründen der jeweiligen Vita, den sozialen Beziehungen, den urbanen Wurzeln; den familiären Umständen. Er beobachtet, wie seine Helden sich in den Stromschnellen ihres Lebensflusses bewegen - und ist sich dabei der Tatsache wohl bewußt, daß mitunter auch die Anwesenheit der Kamera den Ablauf der Dinge beeinflußt haben mag. Er geht damit lakonisch, aber nie fahrlässig um; der Kommentar, der sich, oft etwas zu ausführlich, über allen Junge-Filmen ausbreitet, kreist nicht zuletzt um die Moral und Ethik des Dokumentaristenberufs. Hinzu kommt, daß Junge Unzeigbares wenigstens verbal mitteilen will: Willys Vater, Jahrgang 1910, ist einst Landarbeiter gewesen, er mußte im Pferdestall schlafen, wo ihm die Ratten über den Kopf liefen. Nachdem das in einem früheren Golzow-Film publik geworden war, "hatten im Dorf welche gelacht über seine Erinnerungen an die schlechten Zeiten". So verweigerte sich der stille alte Mann fortan der Kamera, "er schied im Groll", heißt es in der Reminiszenz des Regisseurs nach dessen Tod.

"Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow" wirft Schlaglichter auf das Verhältnis des Protagonisten zur jeweiligen Gesellschaft. In den Medien der DDR beispielsweise gehörte das Thema West-Reisen zu den tabuisierten Gegenständen. Als Willy, noch dazu vor laufender Kamera, in einer der Jugendstunden - einem Ritual vor dem Ablegen der Jugendweihe - davon schwärmt, auf einem Schiff anzuheuern, gerät der ortsansässige Agitator in arge Bedrängnis. Die Genossenschaft, so argumentiert er, böte doch auch Reisen an, nach Polen etwa und in die Sowjetunion. 1990 bittet Willys zweite Frau Jutta den Regisseur, sich mit ihr besser "vor den Toren der Genossenschaft" zu treffen. Die meisten Kollegen sind entlassen; zwischen denen, die noch bleiben durften, ist das Verhältnis abgekühlt, man öffnet das Herz nicht mehr vor den anderen. Als die LPG schließlich Konkurs anmeldet und Willy danach befragt wird, geht er einfach aus dem Bild. Das war vorher nie passiert.

Schule und Berufsausbildung, Armeezeit und Arbeit - und dann auch das Arbeitsamt sind die weitgehend chronologisch aneinandergereihten Stationen von Willys unaufgeregter, "durchschnittlicher", für ein Leben in der DDR durchaus repräsentativer Biografie. Junge legt dabei immer auch Wert auf das Private, die kleinen Komödien, Farcen und Tragödien in den vier Wänden. Willys erste Frau, das dokumentiert der Film so schonungs- wie hilflos, wird nach dem zweiten Kind immer dicker und runder. Zwischen dem Paar gibt es bald kaum noch Kommunikation; Junge fragt, was denn dem einen noch an dem anderen gefalle, und zu den knappen gestammelten Antworten zeigt die Kamera beide in Sesseln sitzend, zwischen sich einen langen Tisch. Zur Scheidung wurden die Filmleute nicht gebeten.

Junges Film beweist wie alle seine Vorgänger das tiefe Vertrauensverhältnis zwischen dem Regisseur, seinem Team und den Golzowern - unbeschadet mancher fehlender Brücken im Dialog. So, wenn der wissensdurstige, gelegentlich etwas missionarische Intellektuelle (Winfried Junge war mal Lehrer!) den Arbeiter dazu bringen will, über sich und möglichst zugleich über die Welt zu reflektieren. Als Willy 14 ist und aus der siebten Klasse entlassen wird (einmal war er sitzengeblieben), will Junge von ihm wissen, ob er die Schule denn richtig genutzt habe. Doch das erwartete schuldbewußte "Nein" bleibt aus. "Was wünschst du dir persönlich?", fragt Junge weiter und erfährt: "Ein gutes Leben." Bis zum Schluß insistiert der Regisseur auf die gesellschaftliche Verallgemeinerung: "Ihr schließt, und die Welt hungert ...", kommentiert er 1991 den Konkurs der Genossenschaft. Aber auch jetzt ist Willy zu keiner Sprechblase fähig.

"Die Geschichte vom Onkel Willy aus Golzow" hat mehrere Finale: das Resümee des Paares über sein Leben in der DDR (Jutta: "Politische Restriktionen erlebten wir nicht."); die Schuleinführung ihres Sohnes Kevin; ihre telefonische Nachricht von der längst überfälligen Hochzeit. Das ist vielleicht ein bißchen zuviel des Guten, läßt sich aber erklären. wenn man bedenkt, daß nach jedem Einzelporträt derjenige, dem es gewidmet war, endgültig aus der Filmfamilie entlassen wird. Rund ein Dutzend solcher Golzower Porträts könnte Junge bis zum Jahr 2000 montieren. Dafür ist freilich auch die Gesellschaft in der Pflicht: Der Regisseur wandte sich während der "Berlinale" mit einem Hilferuf an potentielle Sponsoren, vornehmlich Fernsehanstalten, sein Lebenswerk jetzt nicht im Stich zu lassen. Es wäre eine Schande, würde dieser Ruf vom Winde verweht.
Kommentar verfassen

Kommentieren