- | USA 1995 | 112 Minuten

Regie: Victor Salva

Ein mit außergewöhnlichen Fähigkeiten begabter junger Mann wird von Mitschülern und Behörden als Sonderling abgestempelt. In tiefem Weltschmerz führt er seiner Umgebung ihre eigene Mitleidslosigkeit vor Augen und hilft damit auch seinen Gegnern im Umgang mit Leben und Tod. Ein ebenso bescheidener wie anrührender Film, der in unaufdringlich stilisierten Bildern für Humanismus wirbt und zahlreichen philosophischen und theologischen Interpretationsebenen offensteht. - Sehenswert ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
POWDER
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Hollywood Pictures
Regie
Victor Salva
Buch
Victor Salva
Kamera
Jerzy Zielinski
Musik
Jerry Goldsmith
Schnitt
Dennis M. Hill
Darsteller
Mary Steenburgen (Jessie Caldwell) · Sean Patrick Flanery (Powder) · Lance Henriksen (Sheriff Barnum) · Jeff Goldblum (Duncan) · Susan Tyrrell (Maxine)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.
Externe Links
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Diskussion
Was die alten B-Pictures so jung erhalten habe, erklärte Curt Siodmak kürzlich, sei ihre Kompromißlosigkeit. Während sich das seriöse Kino stets um seinen guten Ruf habe sorgen müssen, durften die B-Produktionen so spekulativ sein, wie sie wollten. Man durfte dort ungleich mehr riskieren, ästhetisch wie moralisch, denn die Zuschauer kamen ohnehin wegen des Hauptfilms ins Kino. "Powder", eine kleinere Produktion des Disney-Studios, die außer Jeff Goldblum in einer Nebenrolle keine Stars verzeichnet, besitzt eine vergleichbare Offenheit und Unbefangenheit im Umgang mit den kinematografischen Mitteln. Victor Salva öffnet sich hingebungsvoll und mit dem Mut zur Übertreibung den ganz großen Gefühlen. Welchem Genre man diese fantastische Erlösungsgeschichte auch zuordnen möchte, sie ist das, was man in den USA einen "tearjerker" nennt: Salva hat es so offensiv auf die Tränendrüsen abgesehen, daß auch hartgesottene Prosaiker kaum trockenen Auges davonkommen dürften. "Powder" variiert eine einfache Idee, die sich mustergültig im Genre-Klassiker "Der Tag, an dem die Erde stillstand" (fd 1799) vorformuliert findet. Ein ungewöhnlich intelligenter und weitsichtiger Außerirdischer war damals auf der Erde | gelandet, um deren Bewohner vor ihrer eigenen Torheit zu warnen, und damit natürlich auf taube Ohren stieß. Es war ein in den Zeiten des Kalten Krieges und der Kommunistenverfolgung mutiger Aufruf zur Toleranz. Man weiß nicht, ob der bleiche, kahlköpfige junge Mann, der sich "Powder" nennt und von einer Jugendheimleiterin einer amerikanischen Kleinstadt aufgelesen wird, ebenfalls aus fremden Galaxien kommt, und glücklicherweise wird darüber nicht einmal offen spekuliert, fest steht nur: Er ist zu gut für diese Welt.

Während der Schwangerschaft war seine Mutter vom Blitz getroffen worden, und noch immer reagiert der Albino äußerst empfindlich auf Elektrizität; Gewitter stellen für ihn eine akute Gefahr dar. Schon früh offenbart sich seine besondere intellektuelle Begabung; Powder verfügt über ein fotografisches Gedächtnis und einen IQ jenseits der Meßbarkeit. Von Mitschülern und Behörden als Sonderling geächtet, zieht er sich immer mehr in Melancholie und sich selbst zurück. Nur gelegentlich versucht er, den Menschen ihren ihm unverständlichen Egoismus vor Augen zu führen. Eine weitere, unerklärliche Fähigkeit kommt ihm dabei zugute: durch einfache Berührung kann er mit anderen in seelischen Kontakt treten; einen Wilderer läßt er den Todesschmerz eines angeschossenen Rehs spüren. Dem ihm mißtrauisch gegenüber stehenden Sheriff ermöglicht er den nonverbalen Kontakt zu seiner im Koma siechender Frau, die nunmehr in Frieden sterben kann. Seine eigenen Gefühle und Sympathien aber vermag Powder nur zaghaft zu artikulieren - gegenüber einem Mädchen seiner Schule etwa oder den Sportlern einer Basketball-Mannschaft: Als er fasziniert einen athletischen Spieler beobachtet, weiß man nicht, ob es seine besondere Menschenliebe ist, oder, wie es die ihm feindlich gesonnen Jugendlichen glauben, eine Form homoerotischer Empfindung. Zu den Besonderheiten von Salvas Film zählt, daß er hier keinen Unterschied macht und jede zwischenmenschliche Gefühlsäußerung als rar und kostbar darstellt. Man demütigt Powder, wirft ihn nackt bei strömendem Regen in den Schlamm. Ein aufkommendes Gewitter veranlaßt ihn schließlich, geradewegs in den einschlagenden Blitz zu laufen.

Es ist das milchige Licht solcher Regentage, das Regisseur Salva und sein Kameramann Jerzy Zielinski suchten, um der magischen Tristesse ihres Ambientes Ausdruck zu verleihen. Zielinski bringt viel von der pathetischen Tiefe des polnischen Kinos in diesen ungewöhnlichen Hollywood-Film ein. Salvas Regie-Einfälle zitieren die jüngere Kunstgeschichte und eröffnen damit eine reizvolle Bedeutungsebene: verwahrt Powder in seinem Herzen gar das gesamte Erbe der europäischen Kulturgeschichte? In Selbstumklammerung versunken erinnert er an Picassos Modelle der "blauen Periode". Ein anderes Mal gemahnt er, einsam und mit Hut, an René Magritte. Ein Fenster, das an Marcel Duchamp erinnert, markiert die Bruchstelle zwischen Utopie und Realität. Dabei ist dieser Film alles andere als intellektuell. Sein eindringlicher Charme liegt vielmehr in einer oftmals im besten Sinne naiv anmutenden Einfachheit. Einen entscheidenden Beitrag zur Poetisierung dieser Bilder leistet Jerry Goldsmiths melodiöse Filmmusik mit einem der prägnantesten Hauptthemen seit langem.

Salva entwirft eine Welt, in der Mitleid und Anteilnahme die Ausnahme sind. Wie zur Bekräftigung, daß dies in der eigenen Umgebung anders ist, fordert er geradezu die Rührung des Zuschauers heraus. Mehrfach gelingen ihm dabei ungewöhnlich intensive Szenen, in denen man mit Todeserfahrungen konfrontiert wird: einmal, in der Jagdszene, mit einem überflüssigen und schmerzhaften Tod; an anderer Stelle ist es die Sehnsucht eines friedlichen Sterbens in Aussöhnung mit der Familie, wie sie die Frau des Sheriffs schließlich verwirklicht sieht. In diesen kurzen, aber um so eindringlicheren Episoden verbreitet Salva seine humanistische Botschaft in unwiderstehlicher Intensität. Die Offenheit seiner Erzählung erlaubt dabei auch theologische Interpretationen. So ist es wohl kaum abwegig, in Powder den verschmähten Heiland zu sehen, der sich schließlich selbst opfert. Aber auch das Ende hält Salva in jenem Schwebezustand, der seinen ganzen Film prägt: Nachdem Powder vom Blitz getroffen worden ist, richtet sich der Blick der Beobachter gen Himmel.
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