Hippolytes Fest

Literaturverfilmung | Frankreich 1995 | 94 Minuten

Regie: Laurent Bénégui

Der Chef und Koch eines kleinen Pariser Feinschmeckerlokals muß aus Gesundheitsgründen sein Bistro aufgeben. Am letzten Abend versammeln sich der Freundeskreis seines Sohnes zu einem Abschiedsessen, in dessen Verlauf nicht nur Neuigkeiten ausgetauscht werden, sondern auch manche Wahrheit zum Vorschein kommt. Ein kurzweiliges kunstvolles Filmmosaik menschlicher Verhaltens- und Lebensweisen, das neben der souveränen Durchführung durch das Ineinander von Abschied und Neubeginn eine tiefe symbolische Ebene ins Spiel bringt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
AU PETIT MARGUERY
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Téléma/Margouric/France 2 Cinéma/Le Studio Canal Plus/CNC/Canal Plus
Regie
Laurent Bénégui
Buch
Laurent Bénégui · Michel Field · Olivier Daniel
Kamera
Luc Pages
Musik
Angélique Nachon · Jean-Claude Nochon
Schnitt
Jean-Luc Gaget
Darsteller
Stéphane Audran (Joséphine) · Michel Aumont (Hippolyte) · Alain Beigel (Daniel) · Marie Bunel (Anne-Françoise) · Thomas Chabrol (Thomas)
Länge
94 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Literaturverfilmung
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Diskussion
Ein Winterabend in Paris: Schnee fällt in luftigen Flocken vom Himmel, während sich im "Au petit Marguery" die ersten Gäste einfinden. Unter ihnen auch eine buntgemischte 15köpfige Gruppe, die sich aus einem ganz besonderen Grund i versammelt: Hippolyte, der Chef des Feinschmeckerlokals, steht nach 30 Jahren zum letzten Mal hinter dem Herd. Das gemütliche, i traditionsreiche Bistro weicht einer Bankfilia-le, weil, wie sich im Laufe des Abends enthüllt, Hippolyte durch ein Geschwür seinen Geruchs- und Geschmackssinn verloren hat. Während er in der Küche seine letzten Anweisungen eine Spur harscher als üblich erteilt, sich ansonsten aber durch eine strenge Beachtung der Routine vor allzu starken Emotionen zu schützen versucht, herrscht unter den Bekannten und Familienangehörigen ein ausgelassener, fröhlicher Ton. Seit Barnabe, der Sohn des Hauses, mit seiner Frau Maria in einen anderen Stadtteil gezogen ist, hat sich der Freundeskreis aus Jugendtagen kaum mehr getroffen. Jetzt aber freut man sich ungeachtet des melancholischen Anlasses und tauscht temperament- und geräuschvoll Neuigkeiten aus, während Hippolyte Champagner spendiert und seine Frau Josephine die Bestellungen sammelt.

Ein letztes Mahl, ein Abschiedsessen: Ein alter literarischer Topos, an der Schriftsteller Laurent Bénégui in seinem autobiografisch gefärbten Roman "Au petit Marguery" bewußt angeknüpft hat, um den filigranen Kosmos seiner Herkunftswelt ohne allzu große fiktionale Handlungskonstruktion schildern zu können. Als er sich aber daran machte, den Stoff zu einem Drehbuch umzuarbeiten, um es selbst zu inszenieren, rieten ihm Freunde dringend davon ab. Doch der erfolgreiche Erzähler ließ sich nicht beirren und formte daraus ein kleines Meisterwerk, eine cineasti-sche Offenbarung, in der die Begrenzung der Handlung wie des Raumes auf wunderbare Weise aufgehoben sind. Leichthändig skizziert er Charaktere und Geschichten der zahlreichen Protagonisten, erzählt fast wie nebenbei von Affären und Leidenschaften, Erziehungsnöten, kleinen Sticheleien und großen Krisen, von Eifersucht und Zuneigung, Streit und Versöhnung. Von Julien, der mit Barnabe zur Schule ging und ein schlechtes Gewissen hat, weil seine Bank das Lokal übernommen hat, von Oscar, seiner Frau Lydie und der lebenslustigen Bitmou, von der Ärztin Anne-Francoise, ihrem aufgeweckten Sohn Tatave und dessen softem Vater Paul, schließlich von Daniele, die dem glatzköpfigen Agamemnon begegnet, dem einstigen Geliebten ihres Mannes Daniel. Mit dabei sind auch der Stadtstreicher Perle, der Gourmet Thomas und die junge Mylène, die vom algerischen Küchengehilfen Mohcène vergöttert wird, der weniger mit der baldigen Arbeitslosigkeit als mit der Unfähigkeit seines Chefs hadert, nach jahrzehntelanger Zusammenarbeit ein Wort des Dankes zu sagen. Eine große, aufgekratzte Tafelrunde, deren Verlauf weniger durch die verschiedenen Gänge als durch die Dynamik der Gruppe bestimmt wird.

Benegui versteht es geschickt, durch Schnitt und den Wechsel der Erzählebenen viele kleine Spannungsbögen aufzubauen, mit Anekdoten, Rückblendungen und Zwischenfällen erst nach und nach zu enthüllen, wer von den Anwesenden mit wem etwas zu tun hat, welche Querverbindungen bestehen und wie der Kreis entstanden ist. Der Eindruck des Schwebenden, der den Film durchzieht, resultiert dabei aus der fein dosierten Mischung von Sentimentalität und Ernsthaftigkeit, Ironie, Humor und einem kleinen Schuß Sarkasmus, aber auch einer angenehm ruhigen Kameraführung, die sich nur jenseits der Küchentür von der dortigen Betriebsamkeit anstecken läßt. In einem der schönsten Momente des Films, wenn sich die Anwesenden gegen Ende des Abends reihum auf Hippolytes Jacke verewigen, greift auch Barnabe zum Stift: "Je t'aime, papa", pinselt er verlegen auf die Unterseite des Revers, während dieser zum Abschied wortlos ein vergilbtes Schulheft hervorzieht, in dem Barnabe seinen ersten Roman niedergeschrieben hatte. Zwei Introvierte, die in kleinen Gesten zum Ausdruck bringen, was sie einander in Worten nicht sagen können; kleine Zeichen, derer sich auch der Film in reichem Maße bedient, um sein so kurzweiliges wie kunstvolles Mosaik menschlicher Verhaltens- und Lebensweisen in ein assoziationsreiches Gefüge zu verwandeln.

Was das filmische Diner darüber hinaus aber auch zu einer interessanten Metapher macht, ist das Ineinander von Abschied und Neubeginn, Tragischem und Heiterem. Im unstrukturierten, lebendigen Durcheinander des gemeinsamen Essens und Trinkens entsteht unter den Großstädtern nicht nur eine Gemeinsamkeit, sondern kommt manche unliebsame Wahrheit ans Licht, folgt auf das Zerwürfnis die Versöhnung, auf das Ende ein neuer Anfang. Wie in "Babettes Fest" (fd 27 217) klingt auch hier eine tiefe symbolische Dimension mit an, die vielleicht nicht jeder mit religiösen Termini belegen will, die unübersehbar aber starke Bezüge zu übergreifenden menschlichen Sinnstrukturen aufweist.
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