Mein Freund Joe

Jugendfilm | Deutschland/Irland/Großbritannien 1995 | 101 Minuten

Regie: Chris Bould

Ein 12jähriger Junge in einem irischen Fischerdorf freundet sich mit einem etwa gleichaltrigen Jungen an und entdeckt erst spät dessen Geheimnis: der Freund ist ein Mädchen, das im Zirkus lebt, wo es seinem brutalen Onkel ausgeliefert ist. Eine einfühlsame, ebenso spannend wie vielschichtig erzählte Geschichte über eine große Freundschaft und ihre Bewährungsproben, über Vertrauen und die Notwendigkeit gegenseitigen Anerkennens, das Jungen und Mädchen ebenso wie Erwachsene und Kinder als gleichberechtigt erscheinen läßt. - Sehenswert ab 10.
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Filmdaten

Originaltitel
MY FRIEND JOE
Produktionsland
Deutschland/Irland/Großbritannien
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Gemini/WDR/Promedia/Portman Entertainment Group
Regie
Chris Bould
Buch
David Howard
Kamera
Michael Faust
Musik
Ronan Hardiman
Schnitt
Rodney Holland
Darsteller
Schuyler Fisk (Joe/Joanne) · John Cleere (Chris) · Stephen McHattie (Curt) · Joel Grey (Simon) · Stanley Townsend (Mr. Doyle)
Länge
101 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 10.
Genre
Jugendfilm | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Peter Pohls 1995 in Schweden erschienener Jugendroman ,Jan, mein Freund" gehört dank seiner nuancenreichen Konstruktion und seinem Einfühlungsvermögen zu den besten Werken seines Genres. Die in den 50er Jahren angesiedelte Geschichte entwickelt einen eher düsteren Kosmos innerlich wie äußerlich spannungsreicher Themen: Kaum wurde im Rahmen einer poesievollen Geschichte so präzise über Ängste und Fantasien pubertierender Kinder geschrieben, kaum auch wurde so aufrüttelnd das Thema der Gewalt gegenüber Kindern angesprochen. Die Verfilmung nivelliert diese bedeutsamen Themen zugunsten einer weitaus leichteren Zugänglichkeit für Kinder, so daß sie letztlich kein Äquivalent für die Romanlektüre ist - und dennoch: "Mein Freund Joe" bezieht immer noch so viele Anregungen und Anstöße aus dem Buch, daß er zu einem der derzeit schönsten und wichtigsten Kinderfilme geworden ist.

Dreh- und Angelpunkt der in die Gegenwart verlegten Ereignisse ist die Freundschaft zwischen dem 12jährigen Chris und dem eines Tages auftauchenden Joe. Chris hat Probleme mit seiner Freundesgang, die ihn zunehmend weniger akzeptiert, weil er nicht alle geforderten Mutproben über sich ergehen läßt. Da kommt Joe gerade recht in das kleine Fischerdorf an der irischen Küste, weil der etwa Gleichaltrige mit seiner offenen Art alle Probleme beiseite wischt: Mutproben auf dem Fahrrad besteht Joe dank seiner außergewöhnlichen Geschicklichkeit "mit links", zugleich entbehrt er aber all jener derben Attitüden, mit denen Jungen so gerne ihre (vermeintliche) Stärke demonstrieren. Dennoch ist die Freundschaft von Joe und Chris kein einseitiges (Abhängigkeits-)Verhältnis, denn Joe scheint keine Ahnung von Büchern zu haben, so daß Chris ihn seinerseits mit Geschichten über Entdecker regelrecht "füttern" kann. Allmählich deutet sich aber an, daß Joe etwas verbirgt. Wehmütig äußert er gelegentlich, daß Chris sehr glücklich über sein familiäres Geborgensein sein könne, bevor er sich wieder entzieht. Während Chris und seine Eltern sich noch ahnungslos um den liebgewonnenen Freund sorgen, erfährt der Zuschauer schon früh Joes Geheimnis: Joe lebt und arbeitet in einem Wanderzirkus, wo er von seinem brutalen und verbitterten Onkel zu gefährlichen akobratischen Leistungen auf dem Hochseil gezwungen wird, und - Joe ist eigentlich ein Mädchen namens Joanne, das sich unter einer Jungenperücke verstecken muß, weil sein Onkel einen "richtigen" Artisten für seine Erfolgsnummer braucht. Dafür setzt er Joanne nicht nur unter schlimmen seelischen Druck, auch schlägt er sie rücksichtslos und nutzt das Mädchen, das nach dem Tod seiner Mutter bei einem Unfall in der Manege von ihm abhängig ist, skrupellos aus.

Parallele Universen: Hierüber hält Chris seinem Freund Joe einmal einen "Vortrag", ohne zu ahnen, welch mehrdeutigen Sinn er damit anspricht. Zunächst setzt auch der Film die Leben von Chris und Joe/Joanne in der Montage parallel, um zu verdeutlichen, wie bedeutsam und schön die gemeinsamen Momente der beiden sind. Zugleich aber führt er vor Augen, daß die freundschaftliche Idylle stets bedroht ist, weil sie auf einem Geheimnis basiert, das das Vertrauen der Freunde früher oder später schwer belasten wird. Sehr differenziert spiegelt der Film diese zusätzliche Ebene in der Erzählung; so alltäglich und "normal" die Episoden aus dem Leben der Kinder erscheinen, so subtil sprechen sie zugleich substantiellere Themen an: geschlechterspezifische Rivalitäten, Berührungsängste, die durch (gewiß nicht nur) pubertäre Rollenklischees um Jungen und Mädchen verstärkt werden, vor allem auch die Suche nach Anerkennung, Geborgenheit und dem Wissen, irgendwo dazuzugehören. Wohltuenderweise bleibt der Film nicht da stehen, wo er "nur" Sorge und Fürsorge für Joanne, die vermeintliche Außenseiterin, artikuliert; vielmehr vermittelt er sehr deutlich, daß Joanne eine äußerst starke Persönlichkeit ist, der, wie jedem anderen Kind auch, mit Zuneigung, Liebe und Respekt die Chance zur freien Wahl seines Lebensweges eingeräumt werden muß. Dieses Plädoyer für die Anerkennung des einzelnen in sozialen und familiären Zusammenhängen nimmt der Film sehr ernst, was sich auch in der sorgfältigen Inszenierung, der präzisen schauspielerischen Ausgestaltung sowie der stimmungsvollen Fotografie ausdrückt. Auch die vielen gefährlichen Szenen der Handlung sind mit angemessenem Aufwand spannend und erregend inszeniert, so daß man stets den Eindruck hat, daß sowohl die Geschichte als auch das Medium, in dem sie erzählt wird, ernstgenommen werden.

Während des Films baut Chris mit seinem Vater immer wieder an einem Boot. "Wenn wir fertig sind", sagt Chris einmal, "können wir hinfahren, wohin wir wollen." Am Ende, nachdem sich alle Geheimnisse und Spannungen gelöst haben, fahren er und sein Vater im fertiggestellten Boot übers Wasser, und Chris erkennt: "Die Bucht ist größer als ich dachte ..." Einen schöneren Schlußsatz hätte der Film kaum finden können: eine noch kindlich, aber doch glasklar formulierte Erkenntnis über den Reichtum menschenmöglicher Erfahrungen, die nicht unbedingt der Weite der Welt, sondern viel mehr der weit geöffneten Seele bedürfen.
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