Vorsicht: Zerbrechlich!

Musical | Frankreich 1995 | 169 Minuten

Regie: Jacques Rivette

Eine Frau versucht nach langem Koma, sich wieder im Leben zurechtzufinden. Eine Bibliothekarin sucht in einem Chanson nach ihrer Identität, und eine dritte junge Frau schlägt sich mit einfallsreichen Lügen durchs Leben. Ein poetisches Musical, federleicht und dennoch hoch stilisiert, das seine Figuren in eine spielerische Verbindung treten läßt, und zugleich eine Hommage an die Individualität und Zerbrechlichkeit des einzelnen. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
HAUT BAS FRAGILE
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod.
Regie
Jacques Rivette
Buch
Pascal Bonitzer · Christine Laurent · Jacques Rivette · Laurence Côte · Marianne Denicourt
Kamera
Christophe Pollock
Musik
François Bréant
Schnitt
Nicole Lubtchansky
Darsteller
Marianne Denicourt (Louise) · Nathalie Richard (Ninon) · Laurence Côte (Ida) · Anna Karina (Sarah) · André Marcon (Roland)
Länge
169 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Musical

Diskussion
Haut - bas - fragile, oben, unten, zerbrechlich - so liest man es auf Paketen, und doch wird niemand auf dem langen Postweg diesen Worten allzuviel Bedeutung beimessen. Doch was, wenn es anders wäre? Wenn wirklich eine unsichtbare Hand wachte über allem, was zerbrechlich ist? Jacques Rivettes Filme leben von dieser Utopie. Die scheinbaren Zufälle, die ihre Figuren in merkwürdige Konstellationen führen, folgen einer göttlichen Ordnung. Und schon die Länge seiner Filme greift spielerisch nach der Ewigkeit.

Louise, die nach fünf Jahren aus einem Koma erwacht ist, ertastet sich schlaftrunken ihr wiedergewonnenes Leben und hat doch alle Mühe, sich der Hilfsbereitschaft ihres reichen Vaters zu erwehren. Als Schlafwandlerin bezeichnet sie einmal der Bühnenbildner Roland, und mit denen habe man immer Probleme: "Weckt man sie, stürzen sie ab, weckt man sie nicht, stürzen sie auch." Doch Traumtänzer haben einen Schutzengel. Als Roland Dokumente über die finstere Vergangenheit ihres Vaters auftut, die bald von einer Hand zur nächsten wandern, entscheidet sich Louise, sie ungelesen zu vernichten: Es wäre der Einbruch der Prosa gewesen in einer Welt der Poesie. Auch die Bibliothekarin Ida steht auf unebenem Boden. Eine Erinnerung an ein Lied geht ihr nicht aus dem Kopf, das sie in ihrer Kindheit gehört hat. Könnte es eine Spur zu ihrer wahren Herkunft sein? Ist Sarah, die Sängerin des Chansons, gar die leibliche Mutter des Adoptivkinds? Anna Karina spielt diese Chanteuse, die ein anachronistisches Tanzlokal unterhält, und verweist damit selbst auf eine unausgesprochene Vorgeschichte dieses Films, die Zeit der Nouvelle Vague. Auch wenn die dynamische Ninon, die dritte junge Frau im Bunde, auf modernen Inline-Skates durch Paris gleitet, lebt auch sie nicht unbedingt in einer wie auch immer definierten Wirklichkeit: Als kleine Gangsterin zieht sie die charmante Lüge der Wahrheit vor.

In ihrer anachronistischen Versponnenheit entziehen sich diese Figuren der Aktualität, kaum anders als die jugendlichen Protagonisten der Filme Eric Rohmers. Hier wie dort führt dies zu einem besonderen Charme: Der 68jährige Rivette stilisiert seinen Film zusätzlich durch eine besondere Musical-Struktur, die nicht mehr anstrebt als die spielerische Nachschöpfung der Eleganz eines Stanley Donen oder Jacques Demy mit den Mitteln des Amateurs. Anders als seinen Vorbildern geht es Rivette nicht um Perfektion. Mit liebevollem Humor spielt er die pathetischen Augenblicke aus, in denen sich Dialog in Gesang zu verwandeln droht oder ein Schritt nicht mehr allein der Fortbewegung dient. Seine simplen Choreografien erinnern an biedere Fernsehshows, doch ihrer Aufrichtigkeit tut dies keinen Abbruch. Wenn Louise mit ihrem Verehrer Lucien im Park zu tanzen beginnt, dann wirkt auch das Ungelenke plötzlich elegant: Tanz ist hier ein gegenseitiges Auffangen aus Liebe und Respekt. Eigentlich ist Lucien ohnehin ihr bezahlter Bodyguard, doch als er selbst attackiert wird, eilt Louise beherzt zu seiner Rettung. Jeder ist des anderen Schutzengel in diesem poetischen Vexierspiel. In der verrätselten episodenhaften Struktur zollt Rivette einem der großen Fantasten der Stummfilmzeit Tribut, Louis Feuillade. Einmal wird gar einer jener gespenstischen Geheimbünde parodiert, wie sie dessen frühe Serials, insbesondere "Les Vampires" auszeichneten. Und noch in einem weiteren Punkt ist dieses Mysterium ohne Auflösung Feuillades endlosen Serienfilmen verwandt: Man wünscht sich, es würde niemals enden.
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