Lügen und Geheimnisse

Drama | Großbritannien 1996 | 142 Minuten

Regie: Mike Leigh

Eine junge englische Farbige sucht ihre leibliche Mutter und erfährt, daß sie eine Weiße ist, die aus ärmlichen sozialen Verhältnissen stammt. Das Auftauchen der bisher verschwiegenen Tochter führt dazu, daß sich die Mutter, ihre andere Tochter, ihr Bruder und ihre Schwägerin den unbequemen Wahrheiten ihres Lebens stellen. Ein künstlerisch herausragender, emotional anrührender und warmherziger Film über Menschen, die sich vom Leben betrogen fühlen und ihren Schutz hinter einem Gespinst von Lügen und Geheimnissen suchen, am Ende jedoch die befreiende Kraft der Wahrheit erfahren und zu vertiefter Zuneigung und Liebe befähigt werden. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SECRETS & LIES
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Ciby 2000/Thin Man Films/Channel Four Films
Regie
Mike Leigh
Buch
Mike Leigh
Kamera
Dick Pope
Musik
Andrew Dickson
Schnitt
Jon Gregory
Darsteller
Timothy Spall (Maurice) · Phyllis Logan (Monica) · Brenda Blethyn (Cynthia) · Claire Rushbrook (Roxanne) · Marianne Jean-Baptiste (Hortense)
Länge
142 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Freudlose Augenblicke", "High Hopes" (fd 28 255), "Das Leben ist süß" (fd 29 333), "Nackt" (fd 30 631). Die Titel der Filme von Mike Leigh signalisieren schon ein Programm. Seine Figuren, Angehörige der englischen Mittel- oder Unterschicht, erleben immer wieder, daß ihre Erwartungen an das Leben enttäuscht werden und sie oft schutzlos und verwundbar dastehen. Wie sie mit ihren Enttäuschungen über das Leben, das zu ihnen nicht fair ist, umgehen und Schutz hinter Gespinsten von Lügen und Geheimnissen suchen, beschreibt sein neuester Film, der in diesem Jahr in Cannes die "Goldene Palme" gewann.

Hortense, eine junge Farbige Ende 20, ist nach der Beerdigung ihrer Pflegemutter, die sie als Kind adoptiert hat, entschlossen, die Wahrheit über ihre leibliche Mutter herauszufinden. Zu ihrer Überraschung stellt sich heraus, daß diese eine Weiße ist. Cynthia lebt in der schon etwas heruntergekommenen Wohnung ihrer Eltern und verdient in der Kartonnagenfabrik ihren kärglichen Unterhalt. Ihre Tochter Roxanne, die als Straßenkehrerin arbeitet, ist mit sich und dem Leben unzufrieden und liegt mit ihrer Mutter in ständigem Streit. Cynthia leidet darunter, daß der Kontakt zu ihrem jüngeren Bruder Maurice auf gelegentliche Besuche beschränkt ist. Maurice, der im Leben erfolgreich ist und ein gutgehendes Fotoatelier besitzt, hat mit seiner Frau Monica ein neues Haus bezogen. Monica kann Cynthia nicht ausstehen, was Maurice schwer belastet. Als Hortense Cynthias Anschrift in Erfahrung gebracht hat und eines Tages unvermittelt anruft, ist das für Cynthia ein Schock. Aber sie läßt sich dann doch auf eine Begegnung mit Hortense ein, und es wartet auf sie ein zweiter Schock, als sie sieht, daß Hortense eine Farbige ist. Zuerst sträubt sie sich gegen die Wahrheit, akzeptiert aber dann doch die neue Tochter, die im Leben den Erfolg aufweisen kann, der Cynthia versagt blieb: Hortense hat eine gutbezahlte Stellung als Optikerin. Zu Roxannes 21. Geburtstag veranstalten Maurice und Monica ein Barbecue, zu dem neben Maurices Angestellter Jane und Roxannes Freund Paul auch Hortense eingeladen wird, die Cynthia als eine Kollegin ausgibt. Die geplante fröhliche Feier mißlingt. Cynthia erfährt von Monica nur Ablehnung und fühlt sich vollends in den Hintergrund gedrängt, als Maurice und Monica Roxanne ein großzügiges Geldgeschenk machen. Da platzt sie mit der Wahrheit über Hortenses Herkunft heraus, und es kommt zum unvermeidlichen Eklat. Roxanne verläßt wütend und verstört das Haus, wird aber von Maurice zurückgeholt. Maurice befreit sich, indem er seinerseits das Geheimnis enthüllt, daß Monica keine Kinder bekommen kann. Cynthia spendet ihrer Schwägerin Trost und versöhnt sich auch mit Roxanne, die ihre neue Schwester akzeptiert.

"Geheimnisse und Lügen" ist ein emotional anrührender Film über Menschen, die die Wunden, die das Leben bei ihnen hinterlassen hat, zu vertuschen versuchen und daran fast zugrundegehen. "Wir leiden alle. Warum können wir unseren Schmerz nicht teilen?" fragt Maurice, als der Schleier der Lügen und Geheimnisse am Ende zerrissen ist. Alle Figuren leben sozusagen mit zusammengebissenen Zähnen, fühlen sich vom Leben unfair behandelt und bleiben in ihrem Schmerz oft allein. Mike Leigh entwickelt ein ungeheuer intensives Kino der unterdrückten und befreiten Gefühle, zwischen Zank, Hysterie und Tränen des Mitleids und der Versöhnung. Dabei ist nicht die große Szene der Enthüllung aller Wahrheiten beim Geburtstagsfest von Hortense der alleinige und vorhersehbare Höhepunkt. Fast eindringlicher noch sind die Szenen der Annäherung zwischen Hortense und Cynthia und die Szene des Besuchs von Maurice bei Cynthia. Diese Gefühlsintensität ist eine neue Qualität im Werk von Mike Leigh, der zwar seinen verletzten und verwundbaren Figuren immer Sympathie entgegenbrachte, aber deutlichere ironische und bisweilen sarkastische Töne anschlug. Noch in seinem letzten Film "Nackt" war die Hauptfigur Johnny ein absoluter Zyniker, und was in "Nackt" unerreichbar schien, ist in "Geheimnisse und Lügen" verwirklicht: die Figuren bleiben nicht allein mit ihrem Leiden, sondern finden Trost und Liebe wieder. War Johnny in "Nackt" noch ein Wahrheitssucher und Prophet, der die Menschen mit der Nichtigkeit ihres Lebens konfrontierte und ihnen Schmerz zufügte, so ist Hortense im neuen Film eine Wahrheitssucherin, die die Befreiung bringt. Von Anfang an schlägt Leighs neuer Film einen anderen Ton an. Er beginnt mit Bildern der Beerdigung von Hortenses Adoptivmutter, und die Musik unterstützt den Akzent der Trauer, der Melancholie, des Verlustes, der sich durch die vom Cello getragenen musikalischen Motive fortsetzt. Daß die Geschichte nicht zu einem tränentriefenden "Filmroman der Woche" wird, wie sie die privaten TV-Sender zu Dutzenden anbieten, ist der Meisterschaft von Leighs Regiekunst zu verdanken. Die Figuren sind in der für Leigh typischen Weise äußerst genau gezeichnet, in Kleidung, Gestik und Sprache in einer bestechenden Authentizität präsent. Das Gleiche gilt für das soziale Ambiente, die heruntergekommene Wohnung Cynthias oder die - im wahren Sinne des Wortes - sterile Atmosphäre im Haus von Monica und Maurice. Die Hauptthemen, Enttäuschungen, Verlust, Sehnsucht nach Liebe, spiegeln sich nicht nur in allen Biografien der Hauptfiguren, sondern auch in Randepisoden wie dem plötzlichen Aufkreuzen des Vorbesitzers von Maurices Fotostudio. In knappster Form bringt Leigh seine Themen in den Fotositzungen von Maurice unter. In einer Folge von kurzen und kürzesten Einstellungen zeigt er, wie die Menschen vor Maurices Kamera agieren und wie sich hier in wenigen Sekunden die Spannungen und Hoffnungen in den Beziehungen andeuten. Die Fotografierkunst akzentuiert das Thema des Sehens, auf das auch der Beruf von Hortense, die Optikerin ist, verweist. Hortense weiß, daß die Augen, die "Fenster der Seele", den Charakter der Menschen offenbaren. Und darauf setzt auch der Regisseur. Die großartig geführten Schauspieler setzen ihre Ausdrucksmittel geschickt ein und machen leichte Schwächen wie die leicht überkonstruiert wirkende Enthüllungs- und Versöhnungsszene vergessen. Man muß sich nur die achtminütige Einstellung ansehen, die Cynthia und Hortense bei ihrer ersten Begegnung zeigt: allein in den Blicken und Gesten der bei- den spielt sich hier mehr ab als in anderen Filmen in 90 Minuten.
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