Georgia (1995)

Drama | USA 1995 | 116 Minuten

Regie: Ulu Grosbard

Eine drogenabhängige, nur mäßig talentierte Rocksängerin kehrt in ihre Heimatstadt zurück, wo ihre Schwester als Folksängerin-Superstar gefeiert wird. Doch der erhoffte Neuanfang scheitert, und der Teufelskreis aus Mißerfolg und Selbstzerstörung beginnt von neuem. Das erschütternde Psychogramm einer Geschwisterbeziehung mit außergewöhnlichen Schauspielern. Die intensive Inszenierung fordert den Zuschauer als aktiven Mitgestalter. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
GEORGIA
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Ciby 2000
Regie
Ulu Grosbard
Buch
Barbara Turner
Kamera
Jan Kiesser
Musik
Steven Soles
Schnitt
Elizabeth Kling
Darsteller
Jennifer Jason Leigh (Sadie) · Mare Winningham (Georgia) · Ted Levine (Jake) · Max Perlich (Axel) · John Doe (Bobby)
Länge
116 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
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Diskussion
Die Distanz könnte kaum größer sein. Aus dem Halbdunkel der Publikumsränge schält die Kamera Sadies aufgelöstes, vor Freude, Begeisterung und kindlicher Hirgabe glühendes Gesicht heraus, während ihre Schwester Georgia im gleißenden Licht der Scheinwerfer gelassen die Folk-Ballade von den "Hard Times" zelebriert, die niemals, niemals zurückkommen werden. Für den umjubelten, in sich und ihrem Leben ruhenden Country-Star scheint dies durchaus zu stimmen, die mit Ehemann und bald drei Kindern in der Nähe ihrer Heimatstadt Seattle ein passendes Zuhause auf dem Land gefunden hat. Sadie dagegen gleicht nicht nur äußerlich dem Klischee einer Rocksängerin: von Alkohol und Drogen ausgezehrt, mit Ketten und Ringen überhäuft, die Augen hinter fingerdicken schwarzen Lidstrichen versteckt; eine innerlich zer rissene Antiheldin, die nach Anerkennung und Erfolg so süchtig ist wie nach dem ersten Schluck Schnaps am Morgen. Viel später im Film wird sie Van Morrisons "Take me back, take me back" in einer unendlich quälenden, acht Minuten langen Sequenz aus sich herauspressen, Ton für Ton, Silbe für Silbe ein verzweifelter Schrei nach dem verlorenen Paradies der Kindheit, eine verstörende Selbstoffenbarung, die das Innerste nach außen kehrt.

Die Heimkehr der gestrandeten Musikerin nach Seattle löst nirgends Begeisterung aus: Georgia nimmt sie pflichtschuldig bei sich auf, ihr Ex-Geliebter läßt sich breitschlagen, sie wieder als Sängerin in seiner Band zu engagieren, mit der er in halbleeren Bars, bei Hochzeiten und kleinen Feiern mühsam ums Überleben kämpft. Schön beim Wiedersehen der Schwestern im Anschluß an Georgias Konzert war eine verhaltene Distanz zu spüren gewesen, eine Reserviertheit, die nur der schüchterne Axel vermissen läßt, der Sadie sein Herz schenkt und ihr Laufbursche, Liebhaber und Ehemann wird. Geduldig erträgt er die Launen und Exzesse der zwischen unglaublicher Hoffnung und düsteren Depressionen Schwankenden, bis schließlich auch seine grenzenlose Gutmütigkeit verbraucht ist und er sich aus dem Staub macht. Ihrer Stütze beraubt, bremst niemand mehr ihre Zerstörungswut, bis es schließlich wieder Georgia ist, die sie - die völlig am Ende ist - zur Entzugstherapie bewegen kann.

Ulu Grosbards außergewöhnlicher Film ist vor allem ein Werk von und für Jennifer Jason Leigh, nach deren Idee Barbara Turner, Leighs Mutter, das Drehbuch schrieb: Maßarbeit für das extreme Talent der Schauspielerin, sich bis an die Grenze der Selbstaufgabe in ihre selbstzerstörerischen Heldinnen einzufühlen und sie mit einer Intensität und Leidenschaft zum Leben zu erwecken, die ihresgleichen sucht. Sadies psychische Gratwanderung zwischen ihrem armseligen Dasein und maßlosen Größenwahn, ihr ambivalentes Verhältnis zur erfolgreichen Schwester, abgöttische Verehrung und lebenslange Konkurrenz in einem, ihre seelischen wie körperlichen Zusammenbrüche meistert die 34jährige mit einer faszinierenden Sicherheit und Nuanciertheit, als zähle dies zu ihren Stegreifübungen. Aber auch Märe Winninghams überzeugende Leistung als bodenständiger Gegenpol, mit dem diesjährigen "Oscar" als beste Nebendarstellerin bedacht, steht dem nicht nach: Erst durch ihre warme, manchmal etwas verbiestert wirkende Beständigkeit gewinnt der Gegensatz der Schwestern über die oberflächliche Konfrontation verschiedener Lebens- und Musikstile hinaus an Schärfe.

Bezeichnenderweise gibt es im Film zwei Leerstellen: Der irritierende Titel und die offene Frage nach der Ursache dieser abgrundtiefen Verschiedenheit der Geschwister. Auf den ersten Blick scheint bei der Titelgebung ein eklatanter Mißgriff unterlau fen zu sein, denn im Mittelpunkt von Grosbards Inszenierung steht eindeutig Sadies Person und ihr Schicksal; gelegentlich drohen die ruhigen, immer wieder auf die Gesichter konzentrierten Bilder sogar Gefahr zu laufen, dem manischen Duktus seiner exzessiven Heroine zu sehr zu erliegen. Georgia ist für Sadie im Grunde genommen nur Phantom, eine Projektion ihrer Träume und Sehnsüchte, hinter denen die Jüngere zeitlebens vergeblich herhinkte, die sie bewundert und angehimmelt, verehrt und schließlich auch auf ihre Weise kopiert hat, obwohl sie musikalisch wesentlich weniger talentiert war. Grosbard deutet die Ursachen, warum Sadies Biografie zur schlechten Kopie ihrer Schwester verkam, nur an: In einem unscharf bleibenden Kindheitsbild, das beide singend auf der elterlichen Veranda zeigt, im zitierten Ausspruch ihres Vaters, Georgia sei von Gott geküßt und schließlich in der während des Entzugsdeliriums herbeifantasierten Nähe des Vaters. Weitere Hinweise verweigert Grosbard ebenso wie er die entscheidende Auseinandersetzung der Geschwister fast nebenbei erzählt, als Georgia Sadie mit ihrer Überzeugung konfrontiert, ihre Gesangskarriere sei ein gefährlicher Irrtum. Die letzten Bilder zeigen Sadie wieder hinter dem Mikro in irgendeiner zwielichtigen Bar, das Whiskyglas in der Hand: Kein beschwichtigendes Ende, nur der Ausschnitt einer Geschichte, die den Zuschauer als aktiven Mitgestalter fordert.

Man kann diesen Film als zwar fiktiven, aber radikalen Film über ein Künstlerleben auffassen, dessen traurigen Schicksalslinien eine stattliche Anzahl bekannter Rockgrößen nahekommt, man kann ihn aber auch als mutige Spekulation über verweigerte Anerkennung lesen, der in der minuziösen Schilderung der Selbstzerstörung die lebenslang nachgetragene Bitte um Liebe thematisiert. Hierin liegt die Größe dieses kleinen Films, der in seiner entfesselten Hauptdarstellerin eine kongeniale Interpretin gefunden hat.
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