Hollow Reed - Lautlose Schreie

Literaturverfilmung | Großbritannien 1995 | 105 Minuten

Regie: Angela Pope

Ein neunjähriger Schüler, dessen Eltern geschieden sind, wird vom neuen Geliebten seiner Mutter mißhandelt, wagt aber nicht, sich seinem homosexuellen Vater anzuvertrauen, der mit seinem Freund zusammenlebt. Bedrängendes Familiendrama, das sich mit großer Ernsthaftigkeit der ausweglosen Not des Kindes annimmt, mit psychologischem Einfühlungsvermögen aber auch das komplexe Beziehungsnetz der Erwachsenen durchleuchtet, die als Täter und Opfer zugleich erscheinen. Ein ungewöhnlich ehrlicher, schmerzhaft-bewegender Film, der in vielen Dingen zu denken gibt. (Videotitel: "Lautlose Schreie") - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
HOLLOW REED
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Scala/Senator/Channel Four Films/Iberoamericana Film/Eurimages/Euromedia Guaranties/C21C
Regie
Angela Pope
Buch
Paula Milne
Kamera
Remi Adefarasin
Musik
Anne Dudley
Schnitt
Sue Wyatt
Darsteller
Sam Bould (Oliver Wyatt) · Martin Donovan (Marty Wyatt) · Joely Richardson (Hannah Wyatt) · Jason Flemyng (Frank Donally) · Ian Hart (Tom Dixon)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Ein Junge hastet panisch durch die einbrechende Dämmerung, stolpert glitschige Treppen hinab, hat weder Augen noch Ohren für den gefährlichen Autoverkehr. Vor einem kleinen englischen Reihenhaus läutet er Sturm. Mehr aber, als daß fremde Kinder ihn blutig geschlagen haben, kann sein Vater Martyn aus dem eingeschüchterten Oliver nicht herausbekommen. Als er einige Tage später in die Schule zitiert wird, weil die Hand seines Sohnes mehrfach gebrochen ist, fällt sein Verdacht schnell auf Frank, den neuen Geliebten seiner geschiedenen Frau Hannah. Der Neunjährige aber behauptet standhaft, sich die Verletzung an einem alten Autowrack zugezogen zu haben und verstummt, als Martyn ihm nähere Einzelheiten entlocken will. Seine Ex-Frau weist seine beunruhigten Nachfragen als schäbige Versuche zurück, ihr mühsam errungenes neues Lebensglück zu sabotieren. Selbst als sie den jähzornigen Frank dabei überrascht, wie er den immer apathischer wirkenden Knaben grundlos schikaniert, will sie aus Angst um die Beziehung die Wahrheit nicht einsehen. Vor Gericht behält sie ihre Zweifel für sich und erhält das Sorgerecht auch deshalb erneut zugesprochen, weil Martyn seine Homosexualität offenlegt und das Zusammenleben mit seinem Partner nicht mehr verheimlicht. Für den mißhandelten Jungen aber, der im Konflikt der Loyaliltäten völlig überfordert ist, beginnt damit eine neue Runde seines Martyriums.

Die englische Regisseurin Angela Pope, bekannt geworden als engagierte BBC-Dokumentaristin, hat sich für ihren zweiten Kinofilm eines drängenden Themas angenommen, das in seinem ganzen Ausmaß in der Öffentlichkeit noch lange nicht wahrgenommen ist: dem seelischen und körperlichen Mißbrauch von Kindern, hier in der Besonderheit des Schicksals eines Scheidungs"waisen", der von seinem Stiervater brutal mißhandelt wird. Ihr bedrückender Film wühlt vor allem deshalb so auf, weil die ausweglose, unerträgliche Situation des Schulkindes von seinem jungen Darsteller Sam Bould so überzeugend realistisch verkörpert wird, daß für manchen Zuschauer die Schmerzgrenze weit überschritten sein dürfte. Ohne in falsches Pathos oder Rührseligkeit zu verfallen, findet die Regisseurin über eine beklemmende Atmosphäre hinaus schmerzhafte Bilder für die Angst und die Einsamkeit des Neunjährigen, der Franks Launen mit einem selbstgebastelten Teleskopspiegel erkundet und sich in der Garage unter der Werkbank ein Versteck geschaffen hat, wo er bis zur Rückkehr seiner berufstätigen Mutter lange Nachmittage ausharrt.

Was Popes Familiendrama aber weit über thematisch vergleichbare Arbeiten hinaushebt, ist ihre bemerkenswerte "Objektivität". Der Verusch, das komplexe Beziehungsnetz psychologisch und thematisch nicht auf einen Nenner zu verkürzen, sondern allen Figuren ihr widersprüchliches Eigenleben zu belassen. Um das malträtierte Kind gruppiert sie die Erwachsenen als Täter und Opfer zugleich, die in ihrem Handeln primär sich selbst und nicht Oliver am nächsten sind. Hannah, durch das Scheitern ihrer Ehe tief verunsichert, klammert sich an die Reste bürgerlicher Familienvorstellungen, Martyn, in seiner Vaterrolle nicht frei von Besitzansprüchen, verwechselt Fürsorge mit eigenen Interessen und begegnet Frank primär auf der Ebene von Macht und Rivalität. An Frank schließlich, der als Architekt auch tagsüber zu Hause ist und Oliver "erziehen" will, wird die Unfreiheit aller Handelnden am deutlichsten: seine gewaltätigen Lektionen wiederholen nur, was er in frühen Jahren am eigenen Leib erfahren hat. Im Zentrum dieses Gefüges: der grenzenlos überforderte Junge, der das Glück seiner Mutter nicht trüben, sich aber auch nicht auf die Seite des Vaters schlagen will und in Frank seiner eigenen zukünftigen Deformation begegnet.

In den Kontext dieses sich um Ehrlichkeit und Ausgewogenheit bemühenden Umgangs mit menschlichen Schicksalen und Charakteren zählt auch das Thema der Diskriminierung einer Schwulen-"Ehe". Weil Homosexualität gesellschaftlich noch immer geächtet wird, fällt dem heterosexuellen Partner im Fall der Scheidung quasi automatisch das Sorgerecht zu. Eine überkommene Regelung, die Pope so dezent in Frage stellt wie relativiert, ohne dabei auf dem anderen Auge blind zu werden. Am Ende wagt sie eine kleine versöhnende Vision, weit entfernt vom Happy-End, als Anstoß und Aufruf, dem Leid der schwächsten Glieder der Gesellschaft nicht aus dem Weg zu gehen: Eine sympathische Geste, die es leichter macht, das verängstigte Gesicht des mißhandelten Kindes nicht zu vergessen.
Kommentar verfassen

Kommentieren