Der Schätzer

Drama | Kanada 1991 | 102 Minuten

Regie: Atom Egoyan

Filmisches Vexierspiel um einen Versicherungsangestellten, der gewissenhaft den Schaden bestimmt, den die Opfer von Brandunglücken erlitten haben, um seine Frau, die als Zensorin für pornografische Filme arbeitet, und um weitere Personen auf der Suche nach Lebensmodellen und -entwürfen. Eine intelligente, anspielungsreiche Auseinandersetzung mit den Abgründen vorgeblicher "Normalität", in der sich die Menschen einrichten. - Sehenswert.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE ADJUSTER
Produktionsland
Kanada
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Ego Film Arts
Regie
Atom Egoyan
Buch
Atom Egoyan
Kamera
Paul Sarossy
Musik
Mychael Danna
Schnitt
Susan Shipton
Darsteller
Elias Koteas (Noah Render) · Arsinée Khanjian (Hera) · Maury Chaykin (Bubba) · Gabrielle Rose (Mimi) · Jennifer Dale (Bert)
Länge
102 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Würde man die "Geschichte" in linearer Form (nach-)erzählen, geriete man auf eine falsche Fährte: Atom Egoyan, Kanadier armenischer Herkunft, inszeniert in "Der Schätzer" ein hochartifizielles, betont beziehungsreiches Organisationsgeflecht, mit dem er die Bilder und Handlungsteile eher assoziativ (an-)ordnet - erzählen im traditionellen Sinn will er damit jedoch nicht. So "verführerisch" auch die Breite des CinemaScope-Formats kinoimmanente Spannung nahelegt, so offensichtlich bildet Egoyan Personen und Ereignisse jenseits gängiger psychologisierender Entwicklungen, Wendungen und Dramaturgien ab: die filmische "Wirklichkeit" zerfällt regelrecht und offenbart dabei einen um so rätselhafteren Kosmos des menschlichen Lebens, der voller Abgründe und Irritationen ist. Der Film hat zwar einen Anfang und ein Ende, das aber im Prinzip nur die Verdoppelung des Anfangs ist; "dazwischen" scharen sich die Protagonisten sinnbildhaft um eine abstrakte Versuchsanordnung: Wie organisiert man sein Dasein? Wann verläßt man das vorgefertigte Modell eines vorgefertigten Ideals, und wann beginnt man wirklich zu leben? Wie schätzt man den Wert des Lebens ein, und welchen Sinn sieht man darin? "Sind Sie dabei? Oder sind Sie draußen?", wird ganz am Ende einer der Protagonisten fragen. Dann zündet der Mann das Haus, das nur ein Modell war, an, vielleicht in der Hoffnung, endlich den Schritt von der (vorgelebten) Theorie zur (selbstbestimmten) Praxis zu vollziehen - aber er steht ja selbst in dem Haus und wird mit ihm verbrennen. Hat er sich verschätzt?

Die titelgebende zentrale Gestalt ist ein Versicherungsangestellter: Noah Render nähert sich behutsam den Opfern von Brandunglücken, um das Ausmaß des entstandenen Schadens so genau wie möglich zu bestimmen. Er vollzieht seine Arbeit sehr gewissenhaft: messen, taxieren, justieren, anpassen, in Ordnung bringen - all dies mögliche Übersetzungen für das englische Verb "to adjust" - lassen sich nur zerstörte Gegenstände, aber Noah will auch den inneren Schaden klassifizieren: erst wenn er jenen Wert (ein-)schätzen kann, den die Menschen ihrem Leben geben, dann sieht er ihre Rückkehr zur Normalität gewährleistet. Doch was ist "Normalität"? Ein bestimmter Lebensstil, mit dem man sich bis zur Deckungsgleichheit identifiziert? Noahs Leben selbst empfindet man alles andere als normal: daß er mit den Brandopfern ins Bett steigt, ist zumindest ebenso ungewöhnlich wie die Tatsache, daß er mit seiner Frau Hera, ihrem Sohn Simon und Heras Schwester in einem Modellhaus lebt, das überwiegend mit Attrappen eingerichtet ist. Durchs Fenster schießt er Pfeile ins öde Umland, auf dem wohl nie weitere Häuser entstehen werden, oder aber auf Werbetafeln, die die maßgeschneiderte Idylle der Siedlung ohne Zukunft anpreisen. Noahs eigentliche Arche ist ein Motel, in dem er die Brandopfer vor ihrem drohenden Untergang einquartiert; sie und die Angestellten des Motels empfinden ihn bereits als ihren rettenden Engel, zu dem sie bewundernd aufblicken. Die Personen um Noah herum sind ihrerseits damit beschäftigt, Dinge zu kategorisieren oder aber mit ihnen, quasi "modellhaft", zu experimentieren: so arbeitet Hera als Zensorin in einer Prüfstelle für pornografische Filme und bestimmt nach festgelegtem Raster jene Stellen, die anderen Zuschauern vorenthalten bleiben sollen. Diese Technik des Einschätzens wappnet sie wie ein Schild vor der Wirkung der Bilder; erst als sie dabei ertappt wird, daß sie Filme für ihre Schwester aufzeichnet, fühlen sich ihre Mitarbeiter "ermächtigt", ihr sexuelle Avancen zu machen. Mimi wiederum, eine offensichtlich sehr reiche Frau, kann sich ihre erotischen Fantasien ohne jede Form von Hemmung kaufen: ihr Geliebter Bubba, einstiger Football-Spieler und danach zum Penner heruntergekommen, inszeniert für sie den Hintergrund: auch er schafft Modelle für jene Fälle, in denen die Fantasie zu kurz greift. So kommt er auch ins Haus von Noah und Hera, das er für Filmaufnahmen mietet. Er durchforscht deren Privatsphäre sanft und doch drängend, neugierig und voyeuristisch, wobei er immer mehr zum Erzähler und Kommentator wird; und er ist es auch, der schließlich nicht mehr "Haus spielen will" und es anzündet: Wer ist dabei, und wer ist draußen? Ein metaphysisches Traktat um Lebenssinn und - Sinnlichkeiten, ein Vexierspiel voller Anspielungen und mythischer Bezüge, eine Versuchsanordnung zur Erforschung der vorgegebenen Bedingungen des filmischen Erzählens: all dies ist "Der Schätzer" auf ebenso intelligente wie amüsante Weise. So komplex der Film auch ist, so spielerisch reiht er die Episoden aneinander, gibt das Dargestellte als einfach zu durchschauen und gleichzeitig als unerklärbar und rätselhaft zu erkennen. Stets macht es Spaß, Egoyans zum Teil ins Absurde lappender Bilderwelt zu folgen, weil er nie zwanghaft-aufdringlich daherkommt und doch nie leichtfertig mit den angerissenen Themen umgeht: seine Sinn-Fragen sind ebenso anregend wie irritierend, und wie er der von ihm beschriebenen (Alltags-)Welt voiler Fassaden, Entwürfe und Konzepte allmählich den Boden entzieht, um sie als lebensuntauglich zu karikieren, das ist ebenso fantastisch wie subversiv. Antworten hat freilich auch Egoyan nicht parat; dafür aber beläßt er den Menschen und ihren Geschichten stets durchaus respektvoll ihre Geheimnisse. Und über diese nachzudenken und zu fabulieren, ist allemal spannender und vielleicht sogar erkenntnisreicher als vorgefertigte Antworten nachzubuchstabieren.
Kommentar verfassen

Kommentieren