Ich küsse nicht

Drama | Frankreich 1991 | 105 Minuten

Regie: André Téchiné

Ein junger Mann vom Lande versucht, in Paris seinen Weg zu machen. Als seine Lebensträume platzen, versucht er sein Glück im Stricher-Milieu. Seine bedingungslose Liebe zu einer Prostituierten leitet seinen vorläufigen Untergang ein. Eine düstere Milieubeschreibung, die vom Spannungsfeld zwischen mitmenschlicher Nähe und Distanz lebt und das Scheitern eines Lebensplans beschreibt, der Anteilnahme nicht vorsieht; kühl und klug inszeniert und von hervorragenden Darstellern getragen. - Sehenswert ab 18.
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Filmdaten

Originaltitel
J'EMBRASSE PAS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1991
Produktionsfirma
Président/A.F.C./Bac/Ciné 5/Gruppo Bema/Canal +/Centre National de la Cinématographie
Regie
André Téchiné
Buch
Jacques Nolot · Michel Grisolia · André Téchiné
Kamera
Thierry Arbogast
Musik
Philippe Sarde
Schnitt
Claudine Merlin · Edith Vassard
Darsteller
Manuel Blanc (Pierre) · Philippe Noiret (Romain) · Emmanuelle Béart (Ingrid) · Hélène Vincent (Evelyne) · Ivan Desny (Dimitri)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 18.
Genre
Drama
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Diskussion
Pierre ist volljährig und hat die Schnauze voll vom Leben am Rande der Pyrenäen. Paris lockt. Dort könnte sein Wunsch, Schauspieler zu werden, in Erfüllung gehen. Völlig mittellos sucht er den Kontakt zu der altjüngferlichen Evelyne, die ihm nicht nur einen Job im Krankenhaus, sondern auch eine Bleibe besorgt. Pierres Jugend und Sorglosigkeit ziehen sie an, wecken aber zugleich auch ihre Beschützerinstinkte. Durch eine Affäre mit ihm versucht sie, ihrem Alterungsprozeß noch einmal für wenige Augenblicke Einhalt zu gebieten, muß aber durch Pierres an Herzlosigkeit grenzende Offenheit die Vergeblichkeit ihres Tuns erkennen. Der hat mittlerweile seinen Job verloren, und als er einsehen muß, daß er nicht zum Schauspielerberuf geboren ist, versucht er sich als Stricher mit eigenem Verhaltenskodex durchzuschlagen. Zunächst schrecken seine horrenden Geldforderungen die Freier ab, doch Pierre kann sich durchsetzen und gibt sich der irrigen Annahme hin, seinen Körper zwar zu Markte zu tragen, sich jedoch nicht zu prostituieren. Pierres Eiseskälte und seine berechnende Art bekommt auch Romain zu spüren, ein homosexueller Fernsehproduzent, der nach einer heftigen Abfuhr nichts weiter will, als den jungen Mann ein wenig unter seine Fittiche zu nehmen. Fast akzeptiert ihn Pierre als väterlichen Freund, doch immer wieder lehnt er sich gegen Romain auf. Ein gespanntes Verhältnis, das auseinanderbricht, als Pierre sich in die Prostituierte Ingrid verliebt und an dieser Liebe zugrunde zu gehen droht. Er glaubt sich sicher und stark genug, um Ingrids Zuhälter trotzen zu können, provoziert einen Streit. Doch das Milieu schlägt zurück. Vor Ingrids Augen wird Pierre zusammengeschlagen, vergewaltigt und am Stadtrand liegengelassen; Paris hat den Glücksritter ausgespuckt.

Ausgerechnet in der Armee hofft Pierre, den Schliff fürs Leben zu erhalten; er will Unterordnung und Einordnung trainieren. Die Nächte verbringt er im Waschsaal und raunt seinem Spiegelbild die wüstesten Beschimpfungen zu. Es scheint, als wolle er sein altes Ego brechen, um einen Neuanfang zu wagen. Das letzte Bild zeigt Pierre am Meer, das er noch nie gesehen hat. Den Wellen vertraut er seine Liebe zu Paris an. Er wird zurückkehren und sein Glück noch einmal versuchen: Der Mensch ändert sich eben doch nicht.

"Ich küsse nicht" ist mehr als ein programmatischer Titel, er bringt nicht nur Pierres Stricher-Geschäftsbedingungen auf den Punkt, sondern umreißt zugleich das egozentrische Weltbild eines jungen Menschen, der von seiner Umwelt alles erwartet, sich jedoch beharrlich weigert, sich selbst in seine Geschichte und in das Spiel, als das er sein Leben begreift, einzubringen. Daß ein Leben, das nur aus Distanz besteht, nicht funktionieren kann, begreift Pierre trotz aller Vorwarnungen erst viel zu spät. Plötzlich hat er sich verliebt, und am denkbar falschesten Objekt seiner Begierden gibt er sich ohne Wenn und Aber preis. Diese bedingungslose Nähe macht ihn verwundbar, ohne daß er aus seinen Lektionen etwas Entscheidenes lernt.

André Téchiné erzählt seine Geschichte mit analytischer Kälte, seziert Verhalten und Fehlverhalten, führt seinen jugendlichen Antihelden jedoch nicht vor und stattet ihn - bei allen negativen Charaktereigenschaften - auch mit einigen liebenswerten Zügen aus. Zugleich verzichtet Téchiné auf eine geradlinige Entwicklung seines Hauptcharakters. Er erzählt keinen sich an klassischen Vorbildern orientierenden Entwicklungsroman, der einen reinen Toren durch die Schule des Lebens schleust, um ihn am Ende geläutert und gestärkt seiner Wege gehen zu lassen, sondern er liefert Reibungspunkte für den Zuschauer. So entwickelt sich nicht nur auf der Leinwand ein Spiel zwischen Nähe und Distanz, auch das Publikum wird in diesen Zwiespalt einbezogen. Oft überwiegt der Abscheu für Pierre, der alles und jeden für seine Ziele auszunutzen bereit ist, der glaubt, Jugend beziehe das Recht ein, andere Menschen nach Gutdünken verletzen zu können. Immer wenn der Zuschauer bereit ist, sich emotional von Téchinés Hauptcharakter abzuwenden, gibt es kleine Augenblicke der Irritation, Liebenswertes blitzt auf, Momente stellen sich ein, die für Pierre einnehmen. Daß dieses Konzept aufgeht, liegt nicht nur daran, daß der Verlierer von Natur aus ein Objekt der Identifikation abgibt und das Mitgefühl geschickt gesteuert wird; es liegt auch am überzeugenden Spiel von Manuel Blanc, der die Kaltherzigkeit seines Pierre nicht nur als Egomanie, sondern auch als von Angst vor Verletzlichkeit getragen zu interpretieren versteht. Überhaupt steht und fällt Téchinés Film mit seinen vorzüglichen Darstellern, die ihre Rollen ausfüllen ohne zu überzeichnen und zu überziehen. Philippe Noiret gibt seinen von der Liebe desillusionierten Homosexuellen ohne tuntiges Gehabe, sehr zurückgenommen und verhalten; Hélène Vincent drückt die leise Trauer um ihr verlebtes Leben allein durch ihre ausdrucksstarken Augen aus, und Emmanuelle Béart als Prostituierte Ingrid bündelt als Pierres Spiegelbild dessen widerstrebende Gefühle: auch sie gibt vor, aus ihrer Einsamkeit ihre Stärke zu schöpfen, doch hinter der Fassade ist auch sie ein trauriger, verletzlicher Mensch, der sich nach ein wenig Geborgenheit sehnt.

Ein kluger, ehrlicher, nicht nur in seinen gewalttätigen Szenen mitunter schockierender Film über Menschen und Wölfe, über die Lust auf das Leben und die gleichzeitige Angst davor. Seine Spannung droht nur am Ende ein wenig verloren zu gehen. Da scheint es fast, als wolle der Regisseur der bösen und düsteren Geschichte das bestmögliche Ende abringen, und für einige Minuten entsteht der Eindruck, als könne er dieses Ende nicht finden. Doch entscheidenden Abbruch tut das der Geschichte nicht, und das wirkliche Happy End findet ja auch nur in Pierres Vorstellung und ferner Zukunft statt. Das Leben geht weiter, soviel hat Pierre zumindest gelernt. Ob er in Zukunft sein Leben klüger und menschlicher gestalten wird, darf man bezweifeln.
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