Gestohlene Kinder

Drama | Italien/Frankreich/Schweiz 1992 | 110 Minuten

Regie: Gianni Amelio

Ein junger Karabiniere muß ein zur Prostitution gezwungenes elfjähriges Mädchen und seinen neunjährigen Bruder in ein Kinderheim bringen. Die Reise von Mailand nach Sizilien wird nicht nur eine Reise ins Innere der drei Personen, sondern auch ein Streifzug durch entstellte Städte und Landschaften mit menschlich verkümmerten Bewohnern. Der Film erzählt seine Geschichte mit beeindruckender Schlichtheit und Poesie. Durch die schnörkellose Kameraarbeit, die einfühlsame Musik und das intensive Spiel der überzeugenden Hauptdarsteller entstand ein kleines, stilles Meisterwerk. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
IL LADRO DI BAMBINI
Produktionsland
Italien/Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Erre/Alia/RAI 2/Arena/Vega
Regie
Gianni Amelio
Buch
Sandro Petraglia · Stefano Rulli · Gianni Amelio
Kamera
Tonino Nardi · Renato Tafuri
Musik
Franco Piersanti
Schnitt
Simona Paggi
Darsteller
Enrico Lo Verso (Antonio) · Valentina Scalici (Rosetta) · Giuseppe Ieracitano (Luciano) · Florence Darel (Martine) · Marina Golovine (Nathalie)
Länge
110 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Nachdem in einer der unwirtlichen Trabantensiedlungen Mailands eine Frau verhaftet wurde, weil sie ihre 11jährige Tochter Rosetta zur Prostitution angehalten hat, werden zwei Carabinieri beauftragt, das Mädchen und seinen neunjährigen Bruder Luciano in ein kirchliches Heim in der Nähe von Rom zu bringen. In Bologna setzt sich einer der beiden Carabinieri ab und überläßt seinem Kollegen Antonio die Kinder. Das Heim in Civitavecchia lehnt die Aufnahme ab, weil es die Kinder im Internat nicht mit der "dunklen" Vergangenheit Rosettas konfrontieren will. Antonio bekommt nun die Order, die Kinder in ein Heim nach Sizilien zu bringen. In Neapel muß er Station einlegen, weil der asthmakranke Luciano einen Anfall bekommt. In Kalabrien platzt er bei seiner Schwester in eine Familienfeier. Rosetta und Luciano stellt er als Kinder seines Vorgesetzten vor, doch durch die Fotoreportage eines Sensationsblättchens erkennt man Rosettas wahre Identität. Antonio übernachtet daraufhin mit den Kindern in einem Hotel und gönnt ihnen am nächsten Tag ein paar Stunden am Meer, das sie noch nie gesehen haben. Er bringt Luciano das Schwimmen bei. In einem Restaurant lernen sie zwei Französinnen kennen, mit denen sie eine Stadtbesichtigung machen. Als Rosetta dabei der Fotoapparat entrissen wird, verfolgt und stellt Antonio den Dieb. Auf der Polizeiwache wird er aber nicht wegens seines Einsatzes gelobt, sondern man droht ihm mit einem Disziplinarverfahren, weil man ihm die Verzögerungen der Reise als (sexuelle) Ausnützung der Situation anlastet, zumal er das Absetzen seines Kollegen nicht gemeldet hat. Niedergeschlagen macht Antonio sich auf die letzte Etappe der Reise, um die Kinder ihrem Schicksal zuzuführen, das er für einige Stunden hat aufhalten wollen.

Schon der Epilog des Films macht deutlich, worauf es Gianni Amelio ankommt: auf die Bedeutung von Gesten und das "Lesen" in Gesichtern. Und was er auf jeden Fall vermeiden will: die (Bild-) spekulative Ausbeutung eines brisanten Themas. Während der "Freier" bei Rosetta ist - im Bild ist nur eine Männerhand zu sehen, die ihre berührt -, fingert Luciano draußen auf der Treppe nervös an einem 1000-Lire-Schein herum, den ihm die Mutter als "Schweigegeld" zugesteckt hat. Sein Gesicht verrät dabei seinen Schmerz. Sein Minenspiel legt die Vermutung nahe, daß er die Polizei verständigt. Amelio spart die direkte Handlung durch eine elliptische Montage aus und zeigt nur noch das Zugreifen der Polizei. Diese distanzierte, aber nie gefühllose Sehweise behält der Film bei, wobei ihm das Kunststück gelingt, in seine oft dokumentarisch anmutenden Bilder eine Poesie des Alltags einfließen zu lassen, wie man sie seit den Meisterwerken des italienischen Neorealismus' nicht mehr gesehen hat. Dabei enthält sich Amelio jeder larmoyanten oder anklägerischen Bewertung. Wie beiläufig erscheinen die "Road Movie"-Sequenzen seines Films wie eine Reise durch italienische Landschaften und Städte, die der Mensch "unbrauchbar" für sich selbst gemacht hat. Und immer wieder zeigt er, wie verloren und einsam der Mensch in den langen Gängen der Bahnhöfe, Heime, Polizeistationen und Eisenbahnwaggons wirkt. Kein Wunder, daß die Kälte die Menschen, die in dieser zerstörten Umwelt leben, geprägt hat. Die Unschuld der Gedanken ist ihnen verlorengegangen: dem Kommunionkind aus Antonios Familie wird das Spielen mit Rosetta untersagt, weil die Mutter die Reportage in der Regenbogenpresse entdeckt hatte; der Polizeichef fragt argwöhnisch, ob Antonio im Hotel in einem Zimmer mit den Kindern geschlafen hat; selbst Rosetta droht Antonio, sie werde behaupten, er habe sie "angegrapscht". Bei Luciano verbirgt sich sein ganzes Leiden hinter einer Mauer des Schweigens, die nur selten ein Lächeln auf seinem Gesicht erscheinen läßt. Daß er auf der Suche nach seiner verlorenen Kindheit ist, offenbart jene Szene, als er auf der Familienfeier das Bild eines glücklich dreinschauenden Erstkläßlers "stibitzt" und Antonio von seinem Wunsch erzählt, sich mit 15 Jahren auf die Suche nach seinem Vater zu machen und mit ihm eine große Reise anzutreten. Aber auch Rosetta zeigt bei aller mißtrauischen Aggressivität, die sie wie einen Schutzmantel um sich legt, wie sehr sie Liebe und Zuneigung braucht: Die Angst, die Mutter, trotz allem, was sie ihr angetan hat, nie wiederzusehen, bereitet ihr Albträume. In diesem zwischenmenschlichen Chaos steht, mal ungläubig staunend, mal mit entsetzter Ohnmacht, Antonio, der mit geradezu entwaffnender Naivität dann das einzig Richtige tut: er handelt menschlich.

Was den Film so spannend macht, ist, daß er eine einfache Geschichte aus den Personen heraus erzählt. Kein Gag auf Kosten der Hauptfiguren entlockt da dem Zuschauer ein falsches Lachen. Man ist berührt von der schlichten "Wahrheit" der Geschichte, die niemals in Sentimentalität verfällt. Natürlich tragen die schnörkellosen Bilder und die äußerst sparsam eingesetzte Musik, deren sanftes Trommeln wie stimmungsverstärkende Signale aus dem Innern wirkt, zum intensiven Erleben des Films bei. Hinzu kommt die Intensität des Trios, das - wie "feinmotorisch" aufeinander abgestimmt - die Geschichte dermaßen glaubwürdig herüberbringt, daß man sehr schnell vergißt, einer Fiktion zuzuschauen. Valentina Scalici und Giuseppe leracitano sind zwei Kinderdarsteller ohne den Drang, ihrem Profi-Kollegen Enrico Lo Verso die Show zu stehlen. Ihre ausdrucksstarken Gesichter wird man genausowenig vergessen wie Lo Versos Fähigkeit, mit kleinsten mimischen und gestischen Mitteln einen Verunsicherten zu zeichnen, der verzweifelt an jener Hoffnung auf zwischenmenschliche Beziehungen festhält, die dem Land und seinen Bewohnern abhanden gekommen zu sein scheint. So ist der Film auch ohne Happy End keineswegs deprimierend, sondern eher ein Ansporn, auf den Nächsten zuzugehen.
Kommentar verfassen

Kommentieren