Gilbert Grape - Irgendwo in Iowa

Drama | USA 1993 | 117 Minuten

Regie: Lasse Hallström

Ein junger Mann, der mit seiner übergewichtigen Mutter, zwei Schwestern und einem geistig zurückgebliebenen Bruder zusammenlebt und seit dem Selbstmord des Vaters dessen "Rolle" übernommen hat, lernt durch die Liebe zu einer durchreisenden Fremden, auch an sein eigenes Glück zu denken. Sensibel und humorvoll inszeniertes Porträt amerikanischen Kleinstadtlebens und ein berührendes Plädoyer für den "normalen" Umgang mit Behinderten und deren Integration ins Gemeinwesen. Der bis in die Nebenrollen ausgezeichnet besetzte und eindringlich gespielte Film erreicht durch seine menschliche Haltung stellenweise spirituelle Qualitäten. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WHAT'S EATING GILBERT GRAPE?
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Paramount
Regie
Lasse Hallström
Buch
Peter Hedges
Kamera
Sven Nykvist
Musik
Alan Parker · Björn Isfält
Schnitt
Andrew Mondshein
Darsteller
Johnny Depp (Gilbert Grape) · Juliette Lewis (Becky) · Leonardo DiCaprio (Arnie Grape) · Mary Steenburgen (Betty Carver) · Darlene Cates (Momma)
Länge
117 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
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Diskussion
Die "Oscar"-Nominierung 1987 für "Mein Leben als Hund" (fd 26 433) in der Sparte "Bester Regisseur" öffnete dem Schweden Lasse Hallström die Tür nach Hollywood. Aber 1991 fühlte sich Hallström wohl noch nicht heimisch in der US-Gesellschaft, was man der nicht sehr erfolgreichen Tragikomödie "Ein channantes Ekel" (fd 29 044) auch ansah. Vielleicht hat er sich deshalb mit seiner zweiten US-Produktion einem überschaubareren, geschlosseneren gesellschaftlichen Umfeld zugewandt, das ihm die Möglichkeit gibt, seine Stärke, die Beobachtung von Personen, auszuspielen und einen europäischen "Touch" in die Inszenierung einfließen zu lassen.

Gilbert Grape ist ein junger Mann, der in dem 1000-Seelen-Dorf Endora, irgendwo in Iowa, lebt, einem Ort, wo das "Leben ist wie ein Tanz ohne Musik". Seinen Unterhalt verdient er sich als Verkäufer in einem "Tante-Emma"-Laden, und zu Hause ersetzt er den früh verlorenen Vater. Seit dessen Selbstmord hat seine Mutter das Haus nicht mehr verlassen, sich respektable 500 Pfund angefressen, die jetzt sogar die "Grundmauern" des Hauses zum Wanken bringen. Gilberts ältere Schwester Amy hat gerade ihren Job in einem Restaurant verloren, und das Nesthäkchen Ellen steckt mitten in der Pubertät, interessiert sich mehr für ihre gerade von der Spange befreiten Zähne als für die Familienidylle. Diese ist nicht nur durch die vor dem Fernsehgerät lebende und schlafende Mutter belastet, sondern auch durch den geistig zurückgebliebenen Arnie, um den sich vor allem Gilbert liebevoll kümmert. Arnie ist es auch, der das verschlafenen Örtchen ab und zu mit waghalsigen Ausflügen auf den Wasserturm in Aufruhr versetzt. Ansonsten sorgt nur der neue Supermarkt mit seinem Hummer-Becken für Gesprächsstoff. Gilbert hat sich, mehr aus Langeweile denn aus Zuneigung, auf eine Liaison mit Betty, der Frau eines Versicherungsvertreters eingelassen, die aber zerbricht, als eines Tages ein junges Mädchen in Endora auftaucht. Becky und ihre Großmutter sind mit ihrem Wohnwagen nur auf der Durchreise. Ein Motorschaden zwingt sie jedoch zu einem Aufenthalt, und während dieser Zeit bahnt sich zwischen Becky und Gilbert eine zarte Beziehung an. Im Ort "überschlagen" sich derweil die Ereignisse: Bettys Mann ertrinkt in einem Planschbecken, worauf sie Endora verläßt; Arnie wird von der Polizei in Gewahrsam genommen, was seine Mutter erstmals aus ihrer Lethargie herausreißt und ins Rathaus treibt, was natürlich einen Menschenauflauf verursacht. Und Gilberts Freund Tucker beglückt seine Mitmenschen mit der Eröffnung einer Hamburger-Bude. Gilbert, der sich immer mehr zu Becky hingezogen fühlt, merkt plötzlich, daß es noch eine andere Welt gibt. Er fängt an, seine "Hausmannspflichten" zu vernachlässigen. Am Abend vor Arnies 18. Geburtstag kommt es zum Eklat: erstmals schlägt er den Bruder, worauf dieser zu Becky flüchtet. Die behutsame Art, mit der sie Amies Vestörtheit auffängt, bindet den die Szene aus der Ferne verfolgenden Gilbert noch stärker an das Mädchen. Als sie am nächsten Tag kommt, um sich zu verabschieden, gelingt es ihm, sie seiner Mutter vorzustellen, die seit ihrer Freßsucht keinen Fremden ins Haus gelassen hat. Kurz nach Beckys Abreise schleppt "Momma" sich zum Sterben in den ersten Stock. Die Kinder verbrennen die Tote samt Haus, um den unwürdigen "Abtransport" mittels eines Hebekrans zu umgehen. Ein Jahr später warten Gilbert und Arnie wieder auf die durchziehende Camper-Karawane, in der sie auch Becky vermuten.

Endora, das ist so etwas wie ein amerikanischer Ableger von Bullerbü, jener schwedischen Kleinstadt, in der zwei von Hallströms Filmen ("Wir Kinder aus Bullerbü", 1986, "Neues von uns Kindern aus Bullerbü", 1987) spielen, und Gilbert könnte durchaus der große (amerikanische) Bruder des 12jährigen Ingemar aus "Mein Leben als Hund" sein, der auch vaterlos mit einer kranken Mutter aufwächst und versucht, sich seiner Stärken und Schwächen bewußt zu werden. Gilbert hat das Leben auch noch nicht entdeckt, sieht noch in Endora und seiner Familie den Mittelpunkt seines Seins - bis die Liebe ihm die Augen öffnet. Nun kann er auch an sich denken. Ein modernes Märchen also, eingebettet in einen realistischen Rahmen, der nur leicht überhöht ist durch all die skurrilen, aber liebevoll gezeichneten Figuren, die diesen kleinen Kosmos bevölkern. Hallström gelingt es ohne äußerliche Dramatisierung und aufgesetzte Sentimentalität, Spannung und Anteilnahme für seine Geschichten und Figuren aufzubauen, die sich ganz aus dem einfühlsamen Eindringen in die Charaktere ergeben. So betulich wie das Leben in Endora fließt die Geschichte dahin, kongenial unterstützt von der ruhigen Montage und den klaren, auf die Personen konzentrierten Bildern Sven Nykvists, der seine sonst oft symbolhafte "Kamera-Sprache" hier ganz in den Dienst der "Einfachheit" stellt. Regie und Kamera (und die sehr zurückhaltend eingesetzte Musik) nützen anrührende Momente nie aus, um auf die Tränendrüsen zu drücken. Wie "genial" Hallström es versteht, emotional heikle Szenen aufzulösen, zeigt der Tod der Mutter: aus halbnaher Position beobachtet er das ungläubige Erstaunen Amies, der seine tote "Momma" entdeckt, um dann seinen herausbrechenden Schmerz aus der Distanz einer Totalen aufzunehmen, was der Szene eine geradezu metaphysische Kraft verleiht. Genauso leise, aber wirksam geht Hallström mit dem Humor um, den er in all seinen Facetten zeigt. Selbst in seinen makabren Momenten, etwa wenn Gilbert Dorfjungen durchs Fenster auf seine Mutter blicken läßt, die er liebevollironisch "einen gestrandeten Wal" nennt, oder wenn ein Leichenwagen immer just dann vorfährt, wenn Arnie wieder einmal seine halsbrecherischen Klettereien unternimmt, wirkt er nicht zynisch. Und wenn die Situation, in der "Momma" in die Stadt fährt, um Arnie aus dem Polizeigewahrsam zu "befreien", geradezu danach schreit, dem Affen Zucker zu geben, zeigt Hallström nur zweimal ganz kurz das mit Schlagseite vorbeifahrende Auto. Nie denunziert er seine Personen, auch nicht den gehörnten Ehemann Bettys, dessen familienzerrüttendes, berufliches Überengagement Hallström klar als den Preis der amerikanischen Ellenbogen-Gesellschaft zeigt, die keinerlei Rücksicht nimmt auf das Glück des einzelnen. Der traurige Blick des "Tante-Emma-Laden"-Besitzers, der Gilbert aus dem seine Existenz bedrohenden Supermarkt kommen sieht, obwohl Gilbert immer behauptet hatte, lieber zu sterben, als je im "Foodland" einzukaufen, spricht Bände über die Zerstörung des Menschen durch ein Wirtschaftssystem. Wie sehr die Menschen dieses System schon verinnerlicht haben, zeigt die Einweihung einer neuen Fast-Food-Bude: zwei Sorten Salat mit 15 Dressings werden da schon als Non-Plus-Ultra fortschrittlicher Ernährung bejubelt. Aber auch das passiert wie die erwachende Liebe zwischen Becky und Gilbert so ganz nebenbei: Hallström reißt die Szenen nur kurz an, überläßt sie der Phantasie der Zuschauer, der hier zum Mitdenken und Mitfühlen aufgefordert ist. Das ausgezeichnete Darsteller-Ensemble, das bis in die kleinste Nebenrolle hinein prägnant besetzt ist, läßt den Film wie das Werk einer großen, das Kino liebenden "Familie" wirken, die ihr "Herzblut" in diese Geschichte eingebracht hat. Ohne die Leistung der anderen schmälem zu wollen, sei das berührende Spiel Leonardo Di Caprios erwähnt, der die Interpretation des Arnie zu einem eindrucksvollen Plädoyer für den natürlichen Umgang mit Behinderten macht, von deren Fähigkeiten, Gefühle zu zeigen und Liebe zu erwidern so mancher "Normale" lernen kann. Der Umgang der Grapes untereinander zeugt trotz aller kleinen Zwistigkeiten letztlich von einer tiefen Zuneigung zueinander und erreicht im Umgang mit dem Tod der Mutter eine Dimension der Menschlichkeit, die dem Film fast spirituelle Qualitäten verleiht.
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