Johanna, die Jungfrau - Der Kampf/Der Verrat

Biopic | Frankreich 1993 | 159/176 Minuten

Regie: Jacques Rivette

Die Geschichte der Jeanne d'Arc (um 1412-1431), die als 16jährige Stimmen vernimmt, die ihr befehlen, Frankreich von den Engländern zu befreien. Rivettes zweiteiliger Film schildert ihren Werdegang und Leidensweg, die mit ihrer Mission verbundenen Kämpfe, ihre Siege und ihren Tod auf dem Scheiterhaufen. In einem "mittelalterlichen Erzähltempo", das eine komtemplative Betrachtungsweise vorgibt, inszeniert. Trotz historischer Sorgfalt und Detailfülle entwirft Rivette jedoch keinen historischen Bilderbogen. Er zeichnet Jeanne d'Arc nicht als entrücktes Wesen, sondern als starke junge Frau, und vermittelt eindrucksvoll den Konflikt zwischen Selbstbestimmung und Macht, Welt und Kirche, männlicher Überheblichkeit und weiblichem Selbstbewußtsein. Ein ungemein fesselnder Film. (Kino O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
JEANNE LA PUCELLE - 1. BATAILLES | JEANNE LA PUCELLE - 2. LES PRISONS
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Pierre Grise Prod.
Regie
Jacques Rivette
Buch
Christine Laurent · Pascal Bonitzer
Kamera
William Lubtchansky
Musik
Jordi Savall
Schnitt
Nicole Lubtchansky
Darsteller
Sandrine Bonnaire (Jeanne) · André Marcon (Dauphin/Charles VII) · Jean-Louis Richard (La Tremoille) · Marcel Bozonnet (Regnault de Chartres) · Didier Sauvegrain (Raoul De Gaucourt)
Länge
159
176 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Biopic | Drama | Historienfilm

Diskussion
Mit der Geschichte Jeannes ist es ähnlich wie mit der Geschichte Jesu: eigentlich ist sie bekannt (oder meint man, sie zu kennen), und doch reizt sie zu immer neuen Interpretationen. Auch für den in Rouen (!) geborenen Jacques Rivette ist Jeanne eine alte Bekannte. Als Kritiker der"Cahiers du Cinéma" brach er seinerzeit eine Lanze für Otto Premingers "Die heilige Johanna" (1957, fd 6290) und versuchte, die Ursachen des kommerziellen Mißerfolges von Robert Bressons "Der Prozeß der Jeanne d'Arc" (fd 13 665) zu ergründen. Die bei diesem Film bewunderte konsequente Ästhetik der Reduktion, seine "Schönheit der reinen Information", die den Zuschauer in eine von ihm offensichtlich ungeliebte "Beziehung der Gleichheit" versetzt, Bressons Bemühen um "Wahrheit" an Stelle "rhetorischer Alibis" - das erscheint heute, 30 Jahre später, wie das Programm seiner eigenen, über fünfeinhalbstündigen Annäherung an "die Jungfrau". Und in vielem ist diese denn auch eine Hommage an den "Altmeister".

Obgleich vom Stoff her "verdächtig" und bis in Ausstattungsdetails hinein um Authentizität bemüht, steht Rivettes Film doch quer zur derzeitigen Historien-Welle des französischen Kinos. Antithetisch zum opulenten Spektakel und zu den großen Emotionen sucht er die geschichtliche Wahrheit oder jedenfalls eine diskutable Rekonstruktion des "Geistes" und des Gangs der Zeit und der sie gestaltenden Menschen über das Alltägliche, ja oft scheinbar Nebensächliche. Umgekehrt läßt er das meiste von dem, was anderen Anlaß zu effektvollen Action- und Massenszenen wäre, einfach Augenzeugen referieren. Die gesichtslose Menge wird individualisiert, bei Prozeß und Hinrichtung bleibt das Volk völlig ausgeblendet, und selbst bei den wenigen Kampfszenen hält sich das Komparsenaufgebot in bescheidenen Grenzen. ("Die Schlachten", so der französische Titel des 1. Teils, setzen sich nebenbei im 2. Teil nahtlos fort, der erst in seinem letzten Drittel den ursprünglichen Titel "Die Gefängnisse" rechtfertigt. Die Zweiteilung ist offensichtlich eine Verlegenheitslösung, ein Zugeständnis Rivettes zur Vermeidung des Diktats einer neuerlichen Kurzfassung wie bei seinem letzten Film. Die deutschen Titel der beiden Teile sind leider noch irreführender, wobei das "Der Kampf obendrein fatale Assoziationen an die nationalsozialistische Vereinnahmung des "Mädchens Johanna" weckt.) Rivette interessiert sich kaum für die üblicherweise bevorzugten Stationen von Jeannes Leben, ihre Berufung in Domremy und den monatelangen Prozeß von Rouen, sondern für die Zeit dazwischen: für ihren Weg von Vaucouleurs zum Dauphin, für die als "Zeichen" ihrer göttlichen Sendung begriffene Befreiung von Orleans und das Krönungszeremoniell in Reims, für ihre (durch die Niederlage vor Paris verstärkte) Krise nach dem Erreichen dieser beiden großen Ziele, ihr Leiden unter der durch den Waffensüllstand verordneten Untätigkeit, ihren Wechsel ins Freischärlertum und die weniger bekannte erste Zeit ihrer Gefangenschaft bei Jean de Luxembourg (Mai bis Dezember 1430), der sie schließlich unter dem Vorwand der Bündnistreue für 10 000 Gold-Ecu verschachert. Von der Auslieferung an die Engländer wechselt die Erzählung dann unmittelbar zum Widerruf am 24. Mai 1431, also zu Jeannes letzter Lebenswoche, und endet mit ihrem verzweifelten Schrei nach Jesus in den Flammen des Scheiterhaufens.

Auch bei den von ihm aufgegriffenen Phasen lenkt Rivette den Blick bevorzugt zwischen die Zeilen der herkömmlichen Ereignisgeschichte und erzählt von dem, was seine Vorgänger übergangen haben, etwa von der Routine des Feldlagers und der Finanzbuchhaltung an Stelle der Schlachten oder - angefangen mit den trägen Wochen in Vaucouleurs - immer wieder vom Warten, Und dieser komplementäre Zugang, der nicht mit an der Oberfläche konkurrierenden Inszenierungen der gleichen Geschehnisse aufwartet, erweist sich als überlegener Zug. Indem Zwischentitel den geografischen und chronologischen Rahmen präzise justieren, und protokollarisch abgefilmte Berichte von Anhängern Jeannes, die bis in den Wortlaut weithin den Akten des Revisionsverfahrens entnommen sind, die wesentlichen Ereignisse dokumentieren, werden Zeit und Raum gewonnen zur Herausarbeitung des Tiefenprofils der Charaktere.

Wer nun in Rivettes zweiter Bearbeitung eines explizit "religiösen" Stoffes einen ähnlichen Skandal erwartete, wie ihn seinerzeit seine Diderot-Verfilmung "Die Nonne" (1965, 15 104) entfacht hat - vom Titel angeregt, etwa einen frivolen Demontage-Versuch auf den Fährten von Voltaires"La Pucelle" -, der wird enttäuscht. Rivette macht keinen Hehl aus seinen Sympathien für Jeanne. Die erste Einstellung des Films gehört ihrer greisen Mutter, die sich mit den überlieferten Worten ihres Gesuchs um Wiederaufnahme des Rehabilitierungsverfahrens (7. November 1455) an den Zuschauer wendet. Und eine Art Rehabilitation betreibt auch Rivette, indem er im Rückgriff gerade auf das Anekdotische und die Randbemerkungen in den historischen Dokumenten den Menschen Jeanne unter den dicken Lagen von Legenden, religiösem Schwulst und Nationalkult freizulegen versucht. In Sandrine Bonnaire hat er für dieses Bemühen eine ideale Partnerin, seine Jeanne gefunden. Mit ihrem oft in Richtung der Präsenz der "Modelle" Bressons zurückgenommenen, subtil nuancierten Spiel "erdet" sie die allzu oft ins Überirdische entrückte Figur und verleiht ihr gleichermaßen erstaunliche Frische und Unmittelbarkeit wie Komplexität. Diese Jeanne hat Humor, kann über sich selbst lachen und mit den Soldaten scherzen, besitzt eine entwaffnende Offenheit und Schlagfertigkeit, ja ist bisweilen schnippisch oder spöttisch; "Einfachheit des Herzens", Arglosigkeit und fast noch kindliche Züge - ihrer Unbefangenheit, mit der sie vor den Geistlichen der ersten Prüfungskommision in Portiers mit den Füßen schlenkert oder die Überreaktion bei der ersten Verwundung - verbinden sich mit Beharrlichkeit, Selbstsicherheit und einer Rede in wahrhaft biblischem "Freimut". Ihre Energie erwächst sichtlich aus einem tiefen Glauben, und diesbezüglich verweigert sich Rivette allen "modernen" Rationalisierungen, die Jeanne etwa unter die Schizophrenen oder die Hysterikerinnen im Konflikt mit ihrer Geschlechtszugehörigkeit verbuchen wollen. Aber nicht nur gegen solche recht platten Psychologisierungen verteidigt er das Geheimnis ihrer Person, sondern auch umgekehrt gegen die Profanisierung, die in der Veräußerlichung dieses Geheimnisses in einer Ästhetik des "verzückten Blicks" liegt. So wie sich seine Jeanne selbst hartnäckig gegen eine Mythisierung schon zu Lebzeiten wendet, stellt sich seine Inszenierung gegen die nach dem Muster "sinsister vs. strahlend" gezeichneten Hagiographien. Jeannes Glaube, ihr (immer wieder auch gebrochenes) Sich-getragen-Wissen von Gott, artikuliert sich bei Rivette durch die Realität und nicht an ihr vorbei. Und der Zuschauer wird nicht bevormundet, wie er sich dazu stellen soll: zu dieser Zumutung, mit der Jeanne immer wieder von ihrer Sendung und ihrem Weg als einer ihr geoffenbarten Sache des Himmels spricht, zum Skandalen ihres unbeirrten Zugs auf die Bühne der "großen Politik". Wenn sich Jeanne zum Gebet zurückzieht, wenn es sie in den Augen ihrer Umgebung wieder einmal "packt", verharrt die Kamera anfangs in dezentem Abstand. Nur ganz behutsam nähert sich Rivette dieser ihrer intimsten Sphäre. Und wenn er dann gerade auch die Anfechtung, ihr Leiden unter dem Schweigen oder der Unklarheit der Stimmen und nicht zuletzt ihre ins Gebet hineingenommene Todesangst zeigt, verstärkt das nur die Glaubwürdigkeit seines Bildes.

Etwas irritierend bleiben dagegen selbst in ihrer unprätentiösen Inszenierung die legendären "Legitimations"-Wunder, etwa die Identifizierung des Dauphins in der Menge der Höflinge oder das plötzliche Drehen des Windes vor Orleans. Auf sie wollte Rivette offensichtlich ebensowenig verzichten wie auf einige "heroische" Bilder mit einer Jeanne als blendender Heerführerin in sauber polierter, maßgeschneiderter Rüstung - Szenen, die sich freilich auch als leise Ironie oder als spielerische ikonographische Zitate lesen lassen, die Klischee-Vorstellungen reaktivieren, nur um sie anschließend um so besser durchkreuzen zu können. Aufs Ganze gesehen nehmen sich die Tributleistungen an die Tradition aber sehr bescheiden aus gegenüber dem, wie Rivette das Jeanne-d'Arc-Bild entstaubt und neu proportioniert, wie es ihm gelingt, diese erratische Gestalt gegenwärtig werden zu lassen, ohne sie neuerlich als Projektionsfläche zu mißbrauchen. Markante Kontur gewinnt hierbei besonders das systemgefährdende Moment in Jeannes souveränem Sich-Hinwegsetzen über die ihr von Geschlechts wegen zugeteilten Kompetenzbereiche, ohne daß sie deshalb zu einem asexuellen Wesen mutierte. Rivette rückt die darauf zielenden Anklagepunkte (Kleidung, Haarschnitt, Waffentragen) oftmals an die erste Stelle und legt den Finger auf die sexuellen Demütigungen, denen Jeanne von Anfang an ausgesetzt ist, von den Anzüglichkeiten von Vaucouleurs bis zur versuchten Vergewaltigung durch einen Käufer ihrer Jungfräulichkeit und zum offenen Sadismus, mit dem sie die Wächter nächtens in Ketten auf die Kerkerpritsche fixieren. Hier kulminieren die Abstoßungsenergien, die die etablierten Männer-Cliquen entwickeln, wenn eine selbstbewußte Frau in ihre Domänen eindringt, und das skandalöserweise noch unter dem Vorzeichen, der Behauptung des Gottgewollten - diese Hexe! Im öffentlich-politischen und (damaligen) theologischen Maßstab ist also auch diese Jeanne eine "Querulantin", wie die Protagonistin des ihr voraufgegangenen Films und recht besehen alle ihre Vorgängerinnen in Rivettes Frauen-Studien.

Diesen Blick auf Jeanne als Exempel für den Handlungsspielraum von Frauen in einer Männergesellschaft ergänzen zahlreiche (historisch belegte) Beispiele der praktischen Solidarität unter den Frauen jenseits der von den Männern definierten Machtstrukturen - sei es, daß die Frau des Schmieds Jeanne beim ersten Haarschnitt hilft und Männerkleidung besorgt, sei es, daß die an sie glaubende Yolande von Aragon gewissermaßen den "Start" ihrer politischen Karriere befördert, indem sie mit ihrem Privatschatz die Heeresausrüstung finanziert, sei es, daß Jean de Luxembourgs Tante das "Herz" über das politische Kalkül stellt und schützend ihre Hand über Jeanne hält. Diese und die anderen lebensnahen Züge im Bild Jeannes halten natürlich etliche Identifikationsmöglichkeiten (und "Spiegel") bereit. Es ist aber eine der großen Stärken von Rivettes Film, daß er mögliche Identifikationen und Aktualisierungen niemals forciert, sondern es dem Zuschauer überläßt, in den Konstellationen deren zeitloses, und insofern auch für die Gegenwart sprechendes Substrat wahrzunehmen: etwa die Frage nach dem Vermögen des einzelnen im Räderwerk der Macht, den Konflikt von Gewissen und Staatsräson, den Opportunismus der Kirche, die "Entmythologisierung" des Krieges durch das Pragmatische des Kosten-Nutzen-Kalküls oder auch, wie am Beispiel des Bischofs Cauchon, der seine Prozeßführung mit dem Hinweis "von Berufs wegen" rechtfertigt, die Bürokratie des Todes. Und nicht zuletzt ist es das heute eminent brisante Problem des religiös begründeten (oder verbrämten) Nationalismus, das in Jeannes Proklamation eines parteilichen Gottes modellhaft Gestalt gewonnen hat.

Die Einladung, solchen und anderen Perspektiven nachzugehen, formuliert Rivette film-sprachlich: die seltsam leeren, trotz historisierender Momente abstrahierten und manchmal im Sinne Bressons ins Zweidimensionale "geplätteten" Räume, die in ihrer Stilisierung an Eric Rohmers "Perceval le Gallois" (fd 22 952) erinnernden Tableaus, die dann immer wieder durch langsame Schwenks und oft überraschend organisierte Fahrten dynamisiert werden, das "mittelalterliche" Erzähltempo, das sich "ungebührlich" Zeit nimmt und die Bilder durchatmen läßt, die fein abgestimmte Farb- und Musikdramaturgie - dies alles konzentriert den Blick, läßt ihn zur Ruhe kommen und macht ihn gleichzeitig frei für das Wesentliche, läßt ihn womöglich durch die Bilder hindurch sehen. Wem es gelingt, sich auf diesen Erzählgestus einzulassen, dem erschließt sich so gerade in der Kargheit ein ungemeiner Reichtum.
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