Rauliens Revier

Dokumentarfilm | Deutschland 1994 | 85 Minuten

Regie: Alice Agneskirchner

Dokumentarfilm über einen Polizeioberkommissar in einem Duisburger Stadtteil, der mit seinen ganz eigenen Methoden den Menschen und Problemen in seinem Revier begegnet. Intensiv und spontan nähert sich der Film seinem Gegenstand, wobei die Kamera einen zwar ungewöhnlichen, aber nie unmotivierten Blickwinkel einnimmt. Eine wie beiläufig erzählte, selten heitere und spannende Beobachtung in der Tradition des "Direct Cinema". - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1994
Produktionsfirma
Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf"
Regie
Alice Agneskirchner
Buch
Alice Agneskirchner
Kamera
Marcus Winterbauer
Schnitt
Tina Hillmann
Länge
85 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Ein stämmiger Mann in Polizeiuniform geht durch ein Stadtviertel, gefolgt vom Blick der Kamera. Er trifft und grüßt Kinder, türkische Frauen und Arbeiter auf einer Baustelle. Da soll eine Moschee entstehen. Die Angesprochenen unterhalten sich mit dem Mann wie mit einem alten Bekannten, auf den Blick der Kamera reagieren die Frauen mit einem lachenden "Nein!", das aber eher als Witz denn ernst gemeint scheint. In wenigen Minuten ist man wie selbstverständlich eingetaucht in "Rauliens Revier", nimmt teil an Begegnungen und erfaßt intuitiv, daß die Kamera hier gerne geduldet wird, daß sie zwar durchaus in das Geschehen eingreift, Erheiterung und Verwunderung auslösend, ohne dabei aber die dargestellten Beziehungen im Kern zu verändern. Erst jetzt folgen Filmtitel und der gewissermaßen verspätet nachgeholte "establishing shot", der von weit oben in einer langsamen Schwenkbewegung den Raum des Films einkreist: Direkt neben den Wohnblocks und Straßen ragen qualmende Schlote in den Himmel.

Der Ton ist gesetzt, der Zusammenhang rein audiovisuell hergestellt für 85 selten heitere und spannende Minuten: Rauliens Revier liegt im Ruhrgebiet, es ist ein Stadtteil von Duisburg, Bruckhausen. Arbeitslosigkeit, Multi-Kulti, Abhängigkeit von Sozialhilfe und Thyssen lassen grüßen. Der Mann, mit dem man sich von Anfang an in Augenhöhe durch die Straßen bewegt, ist Dreh- und Angelpunkt: Polizeioberkommissar Hans Raulien ist hier zuständig, von seinen ganz eigenen Methoden handelt Alice Agneskirchners erster abendfüllender Dokumentarfilm. Dank der präzisen, rein aus der Schulter gefilmten Kameraarbeit ist ihr ein Film geglückt, der den Vergleich mit Klaus Wildenhahns Arbeiterfilmen nicht zu scheuen braucht. (Nicht umsonst ist "Rauliens Revier" dem prägenden westdeutschen Dokumentaristen der Nachkriegszeit gewidmet.) Die humorvollen Interaktionen der Kamera mit Kindern, Jugendlichen und alten Menschen durch den Film hindurch verraten aber auch den Einfluß Volker Koepps, der an der Babelsberger Filmhochschule beratend an dem Filmprojekt mitgewirkt hat.

Die meiste Zeit erlebt man Raulien in seinem kleinen Büro, wie er schlichtend, klärend und mahnend in die Streitfälle seines Bezirks eingreift. Die Leute kommen zu ihm, er erscheint als zentrale Instanz, bei der alle Fäden im Ort zusammenlaufen. Raulien ist eine Art Dinosaurier von einem Polizisten. Er beläßt es nicht bei Klagen darüber, daß die Leute heutzutage von einem Amt zum anderen geschickt werden. Er nimmt die Dinge selbst in die Hand und sieht in der Vorsorge, in der Vermeidung von Verbrechen seine eigentliche Aufgabe. Ein Dienstverständnis, das nicht immer genau den Anweisungen seiner Vorgesetzten entspricht, das den kantigen Polizeikommissar aber auf Anhieb liebenswert macht. Agneskirchner hat sich für die Methode des "Direct Cinema", für das Beobachten und das spontane Reagieren auf interessante Konstellationen vor der Kamera entschieden. Die amerikanischen Väter des "Direct" Peacock, Drew und Pennebaker hatten sich Anfang der 60er Jahre immer besonders dramatische Wirklichkeitsausschnitte zur "unmittelbaren" Beobachtung ausgewählt, z.B. eine Wahl, eine Geburt oder ein Gerichtsverfahren. Diese Selektion brachte dem "Direct Cinema" den Vorwurf ein, den Anspruch des Nichtinszenierten, des Authentischen zu pervertieren. Gleichzeitig wirkten ihre Filme, die ganz auf Kommentar und weitgehend auf Interviews verzichteten, gerade wegen ihrer Nähe zu dem beobachteten Weltausschnitt spannend wie Spielfilme. Diese paradoxe, fiktionalisierende Spannung entfaltet auch "Rauliens Revier". Agneskirchner konnte insbesondere davon profitieren, daß sie dank Raulien sehr nahe an die Probleme der Bruckhausener Bevölkerung herankam, wobei sie ebenfalls weitgehend auf Interviews verzichten konnte, da die Anwohner ja ohnehin ihre Nöte und Sorgen mit Raulien besprechen wollten oder mußten. Dabei ergab sich der Glücksfall, daß die Kamera Zeuge eines deutsch-marokkanischen Familiendramas wurde, das sich über die gesamte Drehzeit fortsetzte und so im Film zu einem roten Faden wird. Es geht dabei um eine alleinerziehende Frau, die nacheinander mit zwei marokkanischen Brüdern Beziehungen hatte und jetzt von einem der beiden und dazu noch vom moslemischen Vater bedroht wird. Bei aller mitschwingenden Brisanz entbehrt es nicht einer gewissen Komik, mitzuerleben, wie nacheinander die Betroffenen immer wieder in Rauliens Büro ihre Version der Geschichte vortragen und wie Raulien redlich bemüht ist, seine Autorität als "Sheriff auszuspielen, um die Angelegenheit zu einem gewaltfreien Ende zu bringen.

Eine Schwäche des Films und der "Direct Cinema"-Methode zeigt sich darin, daß es Alice Agneskirchner nicht so recht gelingt (oder es sie nicht interessiert?), die andere Seite von Rauliens Machtposition kritisch auszuleuchten. Wenn er erzählt, daß er hier jeden kennt, auf jede Hochzeit geht und jedem schon einmal etwas "glattgebügelt" hat, so daß er bei den Leuten immer "etwas gut" hat, so stellt sich auch die Frage nach der Problematik einer solchen Machtfülle. Die Regisseurin beläßt es jedoch bei einer einzigen Nachfrage, gibt sich mit Rauliens Antwort etwas zu schnell zufrieden. Trotz dieser Einwände und trotz der bei den Nachtdrehs bis an die äußerste Grenze der Lichtempfindlichkeit des Filmmaterials gehenden Aufnahmen ist "Rauliens Revier" ein Film, der sich in das Gedächtnis einprägt, weil er sich seinem Gegenstand intensiv nähert und weil die Kamera immer wieder einen ungewöhnlichen, aber nie unmotivierten Bildausschnitt findet.
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