Underground (1995)

Drama | Frankreich/Deutschland/Ungarn 1995 | 170 (TV: 300) Minuten

Regie: Emir Kusturica

50 Jahre einer Freundschaft in Jugoslawien zwischen einem eher draufgängerischen und einem zum Opportunismus neigenden Mann, die dieselbe Frau lieben. Als sich der eine von den deutschen Okkupanten verstecken muß, bringt ihn der Freund mit anderen in einem Keller unter, verschweigt ihm aber schließlich das Kriegsende. Nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens kommt es im slawonischen Bürgerkrieg zur tödlichen Wiederbegegnung. Der ausufernde Film versucht, dem Bruderkrieg im ehemaligen Jugoslawien beizukommen, wobei er von zahlreichen genialen Bildeinfälle lebt. Dennoch gelingt es ihm nicht, ein dramaturgisch abgerundetes Bild zu entwerfen: die visuellen Sensationen und die aberwitzigen, grotesken Wendungen wiegen die oberflächliche Personenzeichnung und die mangelhafte Stoffentwicklung letztlich nicht auf. (Für arte wurde eine fünfstündige, auf zwei sowie auf sechs Teile aufgespaltene Fassung des Films erstellt, in welcher sich die Handlungsfäden leichter entwirren lassen sollen.)
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Filmdaten

Originaltitel
UNDERGROUND
Produktionsland
Frankreich/Deutschland/Ungarn
Produktionsjahr
1995
Produktionsfirma
Ciby 2000/Pandora/Novo
Regie
Emir Kusturica
Buch
Dusan Kovacevic · Emir Kusturica
Kamera
Vilko Filac
Musik
Goran Bregovic
Schnitt
Branca Ceperac
Darsteller
Miki Manojlovic (Marko) · Lazar Ristovski (Blacky) · Mirjana Jokovic (Natalija) · Slavko Stimac (Ivan) · Ernst Stötzner
Länge
170 (TV: 300) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Genre
Drama
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Diskussion
Die Freunde Marko und Blacky sind zwei Belgrader Haudegen, für die 1941 mit der Okkupation ihrer Heimatstadt durch die deutsche Wehrmacht das Abenteuer erst so richtig beginnt. Als Mitglieder der kommunistischen Partei avancieren sie zu Führern der Widerstandsbewegung, verstehen es aber, das hehre politische Ziel augenzwinkernd mit nicht unerheblichen persönlichen Vorteilen zu verbinden. Tags wird Widerstand geleistet, nachts gefeiert. Allerdings lieben beide dasselbe Mädchen - nur da hört die :Freund-schaft auf. Natalija ist ein dummes, aber reizvolles Ding, das zu allem Übel mit dem deutschen Offizier Franz flirtet. Blacky hält das nicht aus und erschießt den Nazi kurzerhand während einer Theatervorstellung, muß fliehen, wird gefangen und gefoltert. Marko befreit den Freund, nutzt aber den günstigen Umstand, um seinen Nebenbuhler auszu-schalten: wie zahlreiche andere Verwandte und gefährdete Genossen versteckt er Blacky in einem riesigen Keller, leistet oberiridisch ansonsten weiterhin Widerstand und widmet sich der Geliebten, die er nun für sich allein hat. Der Krieg ist aus - aber Marko verschweigt den Gefährten im Keller diesen Umstand. Während er unter Tito Karriere macht und zum hochkarätigen Funktionär aufsteigt, werden die Kellerbewohner im Glauben an die fortwahrende deutsche Besatzung belassen. Perverserweise macht Marko gar, Blacky zum allseits verehrten Volkshelden. Justament da eine filmische Huldigung über den angeblich toten Patnoten gedreht wird, gerät dieser höchstselbst durch einen Zufall erstmals wieder ans Tageslicht, platzt mitten in die Filmaufnahmen und richtet, im festen Glauben, der Krieg fände noch immer statt, unter Crew und Darstellern ein Blutbad ¡an. Marko indes sprengt, um die Spuren seines Betruges zu: verwischen, den Keller in die Luft. Er flieht nun seinerseits mit Natalija, nutzt dazu ein weif verzweigtes Tunnelsystem, das mehrere europäische Hauptstädte miteinander verbindet. Zeitsprung. Im Jahre 1991 tobt noch immer, bzw. wieder Krieg in (Ex-) Jugoslawien. Die Wiederbegegnung ¡der i beiden Freunde und der doppelt geliebten Frau endet tödlich. In einer zauberhaften : Landschaft gibt es dann aber doch noch das harmonische Ende, das nicht nur Marko Blacky und Natalija| vereint, sondern alle wichtigen Protagonisten des fast dreistündigen Bilder-reigens.

Nach "Arizona Dream" (fd 30 223), der sich um uramerikanische Mythen rankte, ist ! Kusturica thematisch in seine Heimat ztirückgekehrt. In "Underground" widmet er sich dem Thema schlechthin: dem Bürgerkrieg! im ehemaligen Jugoslawien. Aus mitteleuröpäischer Perspektive ist bei der Bewertung dieser Katastrophe wohl Zurückhaltung angebracht. Dennoch sei auf einige Merkwürdigkeiten der filmischen Generalabrechnung hingewiesen. Dies scheint in der Hinsicht legitim, da es sich um eine beständige Vermischung von politischen und dramaturgischen Mißverständnissen handelt.

Unbestrittene Begabung des Regisseurs ist seine überbordende visuelle Fantasie, die auch mit einfachen technischen Mitteln verblüffende Effekte herzustellen vermag. Im Gegensatz zu "Arizona Dream" verweigert sich Kusturica glücklicherweise diesmal den digitalen Versuchungen computergesteuerter Bildgestaltung. Die ersten Minuten seines neuen Films leben von jener unberechenbaren Kraft, die ihn einst zu Recht als große Regie-Hoffnung Europas etablierte. Doch nach der furiosen Exposition, der feuerwerksartigen Einführung von Ort, Zeit und Handlung, verzettelt sich das Geschehen unversehens. Anstatt sich, nun auf die Zeichnung der drei Hauptcharaktere Marko, Blacky und Natalija zu konzentrieren, verlegt sich der Film auf die ununterbrochene Produktion von Sensationen. Seine Figuren bleiben dabei als reine Karikaturen auf der Strecke. Blacky der Draufgänger, Marko der Opportunist Natalija das Weib an sich. Letztere mutiert zur komplett willenlosen Gallionsfigur männlicher Begierden: ob Nazi oder Kommunist - egal, Hauptsache Mann, sie läßt's gesehehen.

Das Weib als Objekt der Begierde und damit Handlungsantrieb ist zwar wichtig, noch wichtiger ist jedoch der Patriotismus - ein A-priori-Zustand, der über seine Behauptung hinaus keinerlei Motivation bedarf Offensichtlich eine absolut verinnerlichte Eigenschaft, die, so legt der Film nahe, den balkanischen Völkern im Blut liegt. Man ist sexuell omipotent, trinkt bis zum Umfallen, schlagt sich, verträgt sich, tanzt und musiziert, schießt zwischendurch immer mal wieder in die Luft - und ist Patriot. Eine Frage des Temperaments also, quasi des Schicksals. Besonders das letzte Drittel von "Underground" entspricht diesem Schema. Blacky, der ewige Partisan, mit verwegenem Schnurrbart, kreuzweise umgeschnallten Patronengurten Handy und Kalaschnikow - ein irgendwie sympathischer Tschetnik, ein Kraft-Genie, das ja doch nur seinem Naturell folgt. Der Bürgerkrieg in Slawonien nebst Brandschatzungen, Vergewaltigungen, "ethnischen Säuberungen" und Massakern wäre demnach auch nur eine Laune des Schicksals, und hat gar nichts zu tun mit politischem Machtkalkül? Doch halt - es gibt sie, die Kriegsgewinnler, sie kommen aus dem Ausland. Waffenhändler z.B., die im Mercedes-Benz mit deutschem Kennzeichen ins Kriegsgebiet fahren gehören an die Wand - Blacky gibt per Handy dazu den Befehl. (Daß er damit die Ermordung seines Freundes Marko und der geliebten Natalija anordnet, ist nur ein dummer Zufall.) Und es gibt die UNO - diese wird ausschließlich durch breit grinsende Afrikaner repräsentiert, die in schlechtem Englisch Bestechungsgelder für die Evakuierung von Zivilisten einfordern und ansonsten nur töricht im Wege stehen. Das ist gar nicht komisch, soll es wohl aber sein. Verzeihlicher als derartige Geschmacklosigkeiten sind andere, eher ungeschickte Momente beabsichtigten Humors. Kusturicas Schauspielerensemble agiert durchgehend derartig überzogen, daß sich jede Möglichkeit für differenzierte Zwischentöne von selbst verbietet. Dies schlägt vor allem in jenen Szenen als störend zu Buche, da mit Film im Film bzw. Theater im Film gespielt wird. Der Regisseur hätte sich Lubitschs "Sein oder Nichtsein", dessen Geist im Presseheft beschworen wird, genauer ansehen müssen. Sein Film hat ja von vornherein stark parodistische Züge - wenn er glaubt, sich über das Pathos der titoistischen Partisanenfilme lustig zu machen, indem er sie noch mehr überhöht, löscht er die Komik nur aus. Ähnlich bei der Hinrichtung des deutschen Nebenbuhlers Franz auf dem Theater. Man sieht zunächst einige Momente eines Stückes, das für die Okkupanten einstudiert wurde - eine Salon-Schmonzette im Courths-Mahler-Stil. Blacky tritt in die Szene, spielt mit und erschießt aus dem Spiel heraus Franz. Der Humor funktioniert hier nicht, weil sich, ganz anders als bei Lubitsch, die Unangemessenheit der Situation gar nicht herstellen kann - der Gestus des gesamten Films ist, wenn auch parodistisch gemeint, dem des Schnulzen-Theaters viel zu ähnlich, als ¡daß noch ein reizvolles Wechselspiel zwischen den Genres stattfinden könnte.

Mit 169 Minuten dauert "Underground" immer noch fast drei Stunden gegenüber der in Cannes mit der "Goldenen Palme" prämiierten Variante wurde jedoch schon mehr als eine halbe Stunde gekürzt. Möglicherweise beinhaltet diese halbe Stunde eine schlüssige Erklärung, was es mit jenem geheimen Tun-nelsystem auf sich hat, das angeblich mehrere europäische Hauptstädte miteinander verbindet In der jetzigen Fassung jedenfalls wirkt dieses wie ein Alibi, um einen Bruchteil der Handlung irgendwie nach Deutschland zu transportieren, sprich: um deutsche Fördergelder zu legitimieren. Nun hat Hark Bohm seine kleine Sprechrolle als Psychiater bekommen, nun hat auch der Hamburger Film Fonds seinen Obolus entrichtet. Kurzweiliger ist der Film dadurch nicht geworden. Denn insgesamt tut sich Kusturica diesmal schwer. Die immer mal wieder aufblitzenden, wahrhaft genial zu nennenden Bildeinfälle (zuletzt zum Beispiel der im Kreis fahrende elektrische Rollstuhl mit den brennenden Leichen Markos und Natalijas) bilden kein tragfähiges Gerüst für das überlange filmische Unterfangen. Trotz des unablässigen Bühnenzaubers stellt sich schlichte Langeweile ein - selbst die frenetische Musik wirkt in ihren ewigen Wiederholungen bald stereotyp. Dem Film mangelt es letztlich sowohl an epischer Größe als auch an dramatischer Dichte. (Vgl. auch Artikel über Emir Kusturica und "Underground" in fd 15/1995.)
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