Fallen Angels (1996)

- | Hongkong 1996 | 96 Minuten

Regie: Wong Kar-wai

Kaleidoskopartig mit- und ineinander verflochtene Geschichten von fünf Einzelgängern im Moloch Hongkong, im Zentrum ein berufsmüder Profi-Killer, der selbst zum Opfer wird, als er die Liebe seiner Auftraggeberin nicht zu erwidern vermag. Ein meisterhaft, zugleich einfach und hochkomplex komponierter Film, der in immer wieder neuen Perspektiven die Facetten einer Stadt auffächert, die nur im Nachtzustand zu existieren scheint. Herkömmliche Kommunikation findet längst nicht mehr statt, so daß er voller Lakonie und Trauer das klaustophobische Bild einer Gesellschaft in Auflösung entwirft. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
DUOLUO TIANSHI | FALLEN ANGELS
Produktionsland
Hongkong
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Jet Tone
Regie
Wong Kar-wai
Buch
Wong Kar-wai
Kamera
Christopher Doyle
Musik
Roel A. García · Frankie Chan Fankei
Schnitt
Wong Ming-lam · William Chang
Darsteller
Leon Lai Ming (Wong Chi-ming) · Michelle Reise (Agentin) · Takeshi Kaneshiro (He Qiwu) · Charlie Young (Charlie Young) · Karen Mok Manwai (Punkie)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Kinowelt/Arthaus (16:9, 1.78:1, Mono kanton./dt.)
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Diskussion
In der Nacht mögen die Katzen grau sein, Hongkong ist es nicht. Und doch strahlen die Neonlichter ein wenig blasser als gewohnt. Wie Reproduktionen verlorengegangener Originale verhalten sich aber nicht nur die Bilder in diesem Film. Auch die jungen Menschen haben ihren Ursprung aus den Augen verloren. Ihre Zukunft ist so ungewiß, wie die der Metropole, in der sie leben. In der langen Nacht, von der dieser Film erzählt, scheint die Zeit trotz aller Hektik stillzustehen. Die Beschäftigungen, denen diese Menschen nachgehen, täuschen nur notdürftig über die Richtungslosigkeit und Beliebigkeit ihres Tuns hinweg. Ein Profi-Killer geht seiner Arbeit mit stoischer Routine nach, glücklich, daß jede seiner Entscheidungen von anderen geplant wird. Seine schöne Agentin hat sich unglücklich in ihn verliebt. Einmal schleicht sie sich in sein Zimmer und feiert eine einsame Party. Gegenstände, die sie in seinem Müll gefunden hat, ersetzen ihr dabei die Gegenwart des Geliebten.

Leblose Objekte werden zu Fetischen für die Liebenden in Wong Kar-wais Filmen. In "Chungking-Express" (fd 31 851) war das Mädchen Faye glücklich, wenn es in der leeren Wohnung seines Geliebten sein konnte, hatte aber Probleme mit seiner physischen Anwesenheit. In "Fallen Angels" begnügt sich die Agentin mit dem verlassenen Stammplatz des Geliebten an der Bar und liebkost statt dessen die Jukebox. Das Paar ist im ganzen Film fast nie zusammen. So dient auch dem Killer wiederum ein Objekt, um seine Kündigung zu übermitteln. Es ist eine Münze für die Jukebox und die Nummer eines Songs: "Forget Him" - "Vergiß ihn". Als Reaktion darauf wird die Agentin für ihn eine ganzseitige Todesanzeige bestellen und ihn in eine Falle locken. Eine grotesk-komödiantische Nebenhandlung macht derweil mit He Qiwu bekannt, einem anderen Nachtmenschen Hongkongs. Auch er hält sich mit Vorliebe in fremden Räumen auf. Eigenmächtig öffnet er nach Ladenschluß die Geschäfte nichtsahnender Metzger, Friseure oder Eisverkäufer, um seine Dienste arglosen Passanten aufzudrängen. Diese müssen dann dafür bezahlen, daß er sie in Ruhe läßt. Auch He Qiwu, der seine Sprache verloren hat, als er einmal Ananas aus einer Dose mit abgelaufenem Verfallsdatum verzehrte, hat sich glücklos verliebt. Ein Zufall bringt in der Schlußszene die verschmähten Liebenden des Films zusammen: In He Qiwus Gegenwart findet die Agentin des Killers eine unverhoffte Geborgenheit.

Die ersten Aufnahmen von "Fallen Angels" entstanden bereits während der Dreharbeiten von "Chungking Express", der vor einem Jahr Wongs Weltruhm begründete. Auch ästhetisch repräsentiert der neue Film die Schattenseite seines ungleich leichteren Vorgängers. Auf den ersten Blick mag man diese Killergeschichte als schwerfälliger einschätzen, erschließt sich doch ihre komplexe und überaus detaillierte Konstruktion erst bei wiederholtem Sehen. Oft sind wichtige Details in wenigen Bildkadern versteckt oder in den Hintergrund der Tonspur gemischt. Bevor etwa der Killer eine flüchtige Romanze mit einer Blondine beginnt, hatte er einen Auftrag in einem Friseursalon ausgeführt und im Verlassen des Ladens beiläufig eine Vitrine berührt, in der eine blonde Perücke ausgestellt war. In einer Restaurantszene kommentiert ein Radioprogramm für einsame Herzen die Situation des Pärchens. In einem Zustand der Zeitlosigkeit bewegt sich der gesamte Film, und es sind gerade diese kaum sichtbaren Verbindungen, die eine Gleichwertigkeit der Ereignisse herstellen. Wie die Zukunft bereits in der Gegenwart angelegt scheint, ist auch Vergangenes gegenwärtig: so imitiert He Qiwu einmal die tänzerischen Bewegungen von Faye, dem Mädchen aus "Chungking Express". Wie Träumende agieren diese Figuren, und so brauchen sie sich auch nicht um die Konsequenzen ihrer Handlungen zu sorgen. So wie die Charaktere in Wong Kar-wais Filmen sich gern hinter Sonnenbrillen verstecken, trägt auch die Kamera eine permanente Verkleidung: Ein extremes Weitwinkelobjektiv, wie man es für gewöhnlich für Traum- oder Drogenvisionen verwenden würde, zeigt die Welt durch ein einziges Fischauge. Vielleicht ist es wirklich so, daß man die Dinge aus der Perspektive jener Aquarienfische aus "Chungking Express" betrachten soll. Mit dem Leben der Fische scheinen Wongs Helden ohnehin eine Menge gemein zu haben. Unermüdlich bewegen sie sich in diesem "Aquarium Hongkong", dessen Beengtheit eben nur ein Fischauge für Weitläufigkeit halten kann. Und wie für Fische ist Beredsamkeit ihre Stärke nicht. Einzig in ihren Selbstgesprächen finden die Menschen zu jener Intimität und Vertrautheit, die sie untereinander nicht artikulieren können. Wie der gelangweilte Killer, der seinen Job schon längst an den Nagel hängen wollte, aber die Worte dafür nicht findet.

Die wenigen Augenblicke des Glücks erinnern an die Popkultur der 60er Jahre. Wie Andy Warhol und der junge Godard hegt Wong Kar-wai eine unermüdliche Neugier für die Schönheit der Oberflächen. Mit Oberflächlichkeit hat dies indes nichts zu tun, denn die Leere dahinter ist stets präsent. Wong Kar-wai liebt die unverbrauchte Schönheit seiner Darsteller, die in Hongkong gefeierte Popstars sind. Aber es ist eine Schönheit in Traurigkeit. "Vergiß ihn", der Song aus der Jukebox, hat eine doppelte Bedeutung: in China weiß man um das Schicksal seiner Sängerin Juresa Tang, die auf dem Höhepunkt ihres Ruhms bei einem Autounfall ums Leben kam. "Es geht um die Leere", sagt Wong Kar-wai. "Die Passagen, in denen scheinbar nichts geschieht, sind Teil der Geschichte." Aber auch in den Actionszenen sucht Christopher Doyles meisterhafte Kamera nach dem Unsichtbaren. Dann kreist sie wie im Delirium um Lichtpunkte und verlängert Augenblicke zur Ewigkeit. In brüchigem Schwarz-Weiß treffen Zukunft und Ursprung des Kinos aufeinander. Komplexität und Einfachheit begegnen sich im Werk Wong Kar-wais, eines bedeutenden Avantgardisten im Kino der Gegenwart. "Ashes of Time" heißt einer seiner Filme. Die Asche der Zeit. In scheinbarer Flüchtigkeit sammelt seine Kamera Fragmente von Augenblicken, Relikte einer Zeit, die niemals stattgefunden hat. Gibt es eine bessere Definition für das Kino? Seit seinen Anfängen, seit den Tagen von Lumière ist es so gewesen: Der Film ist die Asche der Zeit.
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