Dokumentarfilm | Deutschland/Schweiz/Uruguay 1996 | 93 Minuten

Regie: Rainer Hoffmann

Die Geschichte der uruguayischen Befreiungsbewegung "Tupamaro" von ihren Anfängen bis zu ihrer Zerschlagung und Wiederauferstehung nach dem Ende der Diktatur. Angelegt als bemerkenswert lebendige Geschichtslektion, verdeutlicht der sensible Dokumentarfilm die Hintergründe, wobei er aus der Erinnerung sympathischer Zeitzeugen schöpfen kann. Stets hält er die Balance zwischen Geplantem und Nichtplanbarem im filmischen Entstehungsprozeß und beschwört die Erinnerung an die Macht der Utopie sowie an jene Menschen, die unter lebensbedrohlichen Umständen dafür eingetreten sind. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TUPAMAROS
Produktionsland
Deutschland/Schweiz/Uruguay
Produktionsjahr
1996
Produktionsfirma
Heidi Specogna Filmprod./Tag-Traum/ZDF/Biograph/arte
Regie
Rainer Hoffmann · Heidi Specogna
Buch
Rainer Hoffmann · Heidi Specogna
Kamera
Rainer Hoffmann
Musik
Hans Koch
Schnitt
Dörte Völz-Mammarella
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Zu Beginn ihrer Bewegung stahlen die Tupamaros einen Lastwagen mit Lebensmitteln und verteilten sie an die Armen. Später entführten sie Menschen und forderten Krankenhäuser und Schulen. Einmal kidnappten sie einen international tätigen Spezialisten für Folter, der den urugayischen Sicherheitskräften "wissenschaftliche" Methoden beibringen sollte. Als die Staatsmacht auf den geforderten Gefangenenaustausch nicht einging, exekutierten sie ihn. Die Exekution wurde lange diskutiert, um die Verantwortung auf viele zu verteilen. Die im Film danach gefragt werden, haben ihr alle zugestimmt.

Wenn Pepe Mujica, die Hauptfigur, sagt, "die Aktionen mußten sympathisch sein, nicht brutal, und sie mußten dem Volk etwas zeigen", dann meint er das Konzept der Guerilla, das sich in gleichem Maße ändern mußte wie der Staat sich faschisierte. Ab 1973 war Uruguay eine Militärdiktatur, die jede Opposition mit brutalster Gewalt verfolgte. Mujica selbst war Jahre in Haft, Folterungen waren selbstverständlich mitinbegriffen. Nach mehreren kürzeren Gefängnisaufenthalten verbrachte er während der Diktatur 13 Jahre ununterbrochen in den verschiedensten Kerkern des Landes.

Pepe Mujica ist 62 Jahre alt. Früher einmal war er Bauer, zu Beginn der 60er Jahre wurde er Gründungsmitglied der Tupamaros und war zuständig für den militärischen Bereich. Heute pflanzt er zusammen mit seiner Frau Blumen an und ist Abgeordneter im uruguayischen Parlament. Gern hat er diese Aufgabe nicht übernommen, aber jetzt operieren die Tupamaros in der Legalität, und ihre Wahlerfolge sind groß. Ob er die Legislaturperiode durchhält, weiß er noch nicht. Jüngere Leute mit einer adäquateren Ausbildung können sein Amt wahrscheinlich besser vertreten, glaubt er. Er sei immer nur Bauer gewesen.

Pepe, seine Frau Lucía Topolansky, ihre Zwillingsschwester und Nato Huidobra, der das jüngste Gründungsmitglied der Tupamaros war, erzählen die Geschichte ihrer Bewegung von den ersten Robin-Hood-Aktionen durch die Illegalität in die Vernichtung und von der Wiederauferstehung nach dem Ende der Diktatur bis zur Teilnahme an der parlamentarischen Demokratie. Sie sind Protagonisten, um die man die Dokumentaristen nur beneiden kann, Revolutionäre im Namen menschlichen Glücks, selbstkritisch, humorvoll, abgeklärt unaufgeregt. Sie haben ein Wissen, das man nicht aus Büchern lernen kann, sondern, wie Chris Marker einmal über die Bauern im japanischen Narita sagte, einzig und allein im Kampf. Ihnen zuzuhören, ist nicht nur eine anschauliche Geschichtslektion, sondern heißt auch die Verführungskraft verstehen, die die lateinamerikanische Guerilla einmal auf die westliche Linke ausgeübt hat. Doch die Kraft und Aura der Protagonisten soll die Arbeit der Filmemacher nicht schmälern. Sie haben mehr getan, als ihre Helden "irgendwie" abzufilmen und die Gespräche zu montieren (und selbst das ist nicht so einfach). Sie haben Pepe Mujica in seinem Alltag begleitet, ihn bei der Arbeit mit den Blumen, bei der Arbeit im Parlament, bei einer Auslandsreise gefilmt. Sie sind mit ihm und Nato an Schauplätze zurückgekehrt, die die Vergangenheit schon verschluckt hat, oder an Orte, die von jeder Geschichte ganz unberührt scheinen. Sie sind mit Archivmaterial sparsam umgegangen und haben es in drei kurzen historischen Exkursen gebündelt. (Den Kommentar spricht Christian Brückner, der sein Courths-Mahler-Timbre wohl leider nie los wird.) Sie haben ihren Film, ausgehend von der Gegenwart, als historischen Rückblick angelegt, die Beschreibungen ihrer Protagonisten aber immer wieder auch systematisch gebündelt. Sie haben den Schwerpunkt auf den Alltag gelegt und die kleinen Geschichten, die unter bestimmten politischen Bedingungen zu existentiellen werden, den Vorrang vor abstrakter Analyse und "Kaffeehaus-Philosophie" (Mujica) gegeben. Sie drängen sich als Filmemacher weder auf noch nehmen sie den Ort der Fliege an der Wand ein. Ihre Anwesenheit oder Abwesenheit im Film ist weniger konzeptionell als situationsabhängig.

Manchmal hört man eine Frage aus dem Off, häufiger aber nicht, manchmal verdankt sich eine Situation ausschließlich ihrer Intervention, meistens aber nicht, manche Bilder sind gesucht, viele aber sind gefunden. So entsteht ein Gleichgewicht zwischen dem Geplanten und dem nicht Planbaren, zwischen der Macht derer, die filmen, und der Erinnerungsmächtigkeit jener, die gefilmt werden. Und der Dokumentarfilm kommt auf eine alte Tugend zurück: festzuhalten, was vergehen wird, Erinnerung zu dokumentieren und selbst Erinnerung zu sein. Erinnerung an die Macht der Utopie und an all jene, die unter lebensbedrohenden Umständen für sie eingetreten sind.
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