Der Gejagte (1997)

Krimi | USA 1997 | 114 Minuten

Regie: Paul Schrader

Ein Dorfpolizist leidet nicht nur an bohrenden Zahnschmerzen, sondern auch an seiner Lebens- und Liebesunfähigkeit. Als er glaubt, einem Mordfall auf der Spur zu sein und durch die Ermittlungen seine Probleme überdecken zu können, erreicht er das genaue Gegenteil: Unausweichlich wird er mit seiner leidvollen Vergangenheit konfrontiert. Ein zutiefst trauriger Film in den Dimensionen einer klassischen Tragödie, der den Zuschauer zur Auseinandersetzung mit seinem eigenen Leben herausfordert. Außergewöhnlich durch die konsequent-kompromißlose Inszenierung, die effektvolle Kameraführung und die hervorragenden Darsteller. - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
AFFLICTION
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
1997
Produktionsfirma
Kingsgate/Largo Entertainment
Regie
Paul Schrader
Buch
Paul Schrader
Kamera
Paul Sarossy
Musik
Michael Brook
Schnitt
Jay Rabinowitz
Darsteller
Nick Nolte (Wade Whitehouse) · Willem Dafoe (Rolfe Whitehouse) · Sissy Spacek (Margie Fogg) · James Coburn (Glen Whitehouse) · Mary Beth Hurt (Lillian)
Länge
114 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Krimi | Drama
Externe Links
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Diskussion
„Der Gejagte“ – das ist ein ziemlich irreführender Titel (so hieß allerdings auch der in Deutschland nicht mehr aufgelegte Roman) für einen Film, dessen Originaltitel in deutscher Übersetzung Leiden, Betrübnis, Pein bedeutet. Und genau diese Bedeutungen bringt Paul Schrader schon nach wenigen Minuten auf einen visuell überzeugenden Punkt. Polizist Wade Whitehouse sichert den Schulweg der Kinder, doch seine ausgebreiteten Arme, sein zurückgebeugter Kopf strahlen keine Autorität aus, sondern signalisieren Leiden und unendliche Pein: Da ist jemand ans Kreuz seines Lebens geschlagen, weiß das seit langem und wehrt sich und kann seinem Schicksal nicht entrinnen.

Vorangegangen war ein Halloween-Abend mit der kleinen Tochter Jill, die bei ihrer Mutter Lillian lebt, mit der Wade bereits zweimal verheiratet war, und die dem Vater nur mißmutig begegnet. Sie ist ebenso der erhoffte Rettungsanker des unglücklichen Polizisten, der sein karges Gehalt durch Gelegenheitsjobs aufbessert, wie die Kellnerin Margie, mit der Wade eine dauerhafte Beziehung anstrebt. Zumindest glaubt und hofft er dies, aber eigentlich ist Wade nicht für eine menschliche Beziehung geschaffen, sein Schicksal ist die Einsamkeit, er weiß dies und leidet daran. Seinen Schmerz versucht er mit Alkohol zu betäuben, einer denkbar schlechten Medizin, die alles nur schlimmer macht. Auch darunter leidet Wade, der immer noch von seinen Kindheitserinnungen heimgesucht wird, in denen der alkoholkranke, gewalttätige Vater die beherrschende Rolle spielte. Da sind die bohrenden Zahnschmerzen eine fast schon willkommene Ablenkung, es ist ein nach außen gekehrter Schmerz, der empfunden und zunächst ausgehalten werden kann. Weit größere Ablenkung bietet jedoch ein mysteriöser Jagdunfall, in den Wades Kollege verwickelt ist. Wade will an Mord glauben und ermittelt gegen alle Vernunft, entwickelt eine auf den zweiten Blick schlüssige Verschwörungstheorie, die sich letztlich jedoch als haltlos erweist. All dies puffert die eigentliche Qual zunächst ein wenig ab, doch als Wades Mutter stirbt und er mit Margie zum verhaßten Vater zieht, für den er sich verantwortlich fühlt, nehmen die verhängnisvollen Ereignisse ihren Lauf. Immer häufiger kehren die Kindheitserinnerungen zurück, immer brüchiger wird die Fassade, die Wade zwischen seiner bemüht bürgerlichen Existenz und seiner mit Alkoholismus verbundenen latenten Gewaltbereitschaft errichtet hat. Der Leidensdruck und der Zahnschmerz werden heftiger, und auch die Gespräche mit seinem Bruder Rolfe, der dem kleinen Kaff längst den Rücken gekehrt hat und nur zum Begräbnis seiner Mutter angereist ist, lindern die Seelenqualen nicht. Im Gegenteil, sie untermauern die Kluft zwischen Wade und dem Rest der Welt, hat Rolfe doch immerhin gelernt, sich aus allem raus- und vom Alkohol fernzuhalten. Noch bemüht sich Wade um Margie, der er einen Heiratsantrag macht, und seine Tochter, doch als er wegen fortgesetzten Querulantentums seinen Job und damit den letzten bürgerlichen Rückhalt verliert, eskalieren die Ereignisse. In blinder Wut wendet er sich gegen Jill, und dann verspottet ihn auch noch der Vater, der ihm, dem alt gewordenen Sohn, zu verstehen gibt, daß er alles ihm, dem Vater, zu verdanken habe. Seinem Zahnschmerz wird Wade schließlich mit Schnaps und einer Zange Herr, den anderen Schmerz zu besiegen bedarf weit ungeheuerlicherer Anstrengungen. Doch auch am Ende ist Wade nicht der Sieger, sondern ein vom Leben Besiegter.

Die letzten Szenen dieses grandiosen, unendlich traurigen Films fassen die ganze Tragödie zusammen: Nachdem Wade seinen Vater symbolisch erschossen und unbeabsichtigt erschlagen und seinen Leichnam verbrannt hat – gründlicher kann ein Mensch kaum vernichtet werden – , betritt er das Haus seines Vaters, setzt sich an dessen Tisch, auf dessen Stuhl und schüttet sich Whisky in dessen Glas. Den ganzen Film über hatte er aus der Flasche getrunken. Wade ist genau da angekommen, wo er niemals hingewollt hat; die Hölle in ihm ist Wirklichkeit geworden. All das, wovor er sich gefürchtet hat, ist zum Ausbruch gekommen, er hat seine Bestimmung, die er immer erahnt und mit allen erdenklichen Mitteln negiert hat, endlich gefunden. Von Erlösung kann allerdings keine Rede sein. Geschickt lenkt Paul Schrader den Zuschauer auf diesen Punkt. Der als Motor der Geschichte installierte Mordfall verliert rasch an Bedeutung, an seine Stelle treten die vielen kleinen Tode, die ein Mensch zeitlebens sterben kann: die Abschiede und Verluste, die man durchleidet, die Begegnung mit dem eigenen Ich, die man mehr als alles auf der Welt fürchtet. „Der Gejagte“ ist ein ebenso intensives wie intimes Drama, dessen Kamera meist dicht und ruhig bei den Personen verweilt, um ihre Schmerzen und Schrecken über erfahrenes und zugefügtes Leid zu vermitteln. Bei aller Gewalttätigkeit prangert Schrader des Böse nicht an, sondern zeigt es als Teil des Lebens, dem kaum jemand entrinnen kann; und er hat Mitleid mit seinen Personen, die das Gute so ersehnen, jedoch keine Gnade finden.

Über all dem liegt Eiseskälte. Sie hat sich in den Herzen der Menschen eingenistet, jedoch auch von der Landschaft Besitz ergriffen. Banks Geschichte spielt in New Hampshire (gedreht wurde allerdings in Kanada), die eigentlich liebliche neuenglische Landschaft ist von einer dichten Schneedecke bedeckt, ein Leichentuch, das jedes Leben unter sich begräbt, jeden Laut dämmt, damit die Stille, die Sprachlosigkeit um so lauter zu hallen vermag. Die Frage nach dem Grund für diese Qual, nach dem Warum, liegt über dieser Landschaft, hallt überdeutlich durch die Wälder, doch niemand scheint sie beantworten zu wollen. Wo ist die ordnende Kraft, die doch auch dieses Chaos gewollt hat? Schrader, der sich selbst als einen spirituellen Filmemacher bezeichnet, hat in der Tat einen spirituellen Film geschaffen, der seine Zuschauer mit dem eigenen Leben, dessen Sinn und Vorbestimmung konfrontiert, mögen auch die individuellen Lebenserfahrungen vom konkreten Filminhalt abweichen. Dabei stellt Schrader diese Auseinandersetzung nicht zur Disposition, sondern zwingt sie herbei, zerrt an der Seele des Zuschauers und läßt kein Entrinnen zu. Unterstützt wird er von einem großartigen Nick Nolte, der trotz seiner bulligen Gestalt einen Menschen am Ende seiner Leidensfähigkeit glaubhaft und überzeugend verkörpert. Auch Willem Dafoe und James Coburn verleihen ihren Charakteren eine überzeugende Tiefe, der es zu verdanken ist, daß unter all der Unnahbarkeit, die die Personen umgibt, eine tiefe Verletzbarkeit durchschimmert.
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