Propaganda (1999)

- | Türkei 1999 | 108 Minuten

Regie: Sinan Çetin

In einem osttürkischen Dorf an der Grenze zu Syrien marschieren 1948 Landvermesser, Zollbeamte und Soldaten ein. Die bis dahin kaum wahrgenommene Demarkationslinie soll endlich in aller Form gekennzeichnet und mit Verteidigungsanlagen versehen werden. Fatalerweise verläuft die Grenze aber mitten durch die kleine Ortschaft, was die Bewohner in In- und Ausländer spaltet. Ironisch, sinnlich und dramaturgisch präzise entwirft der Film eine Parabel, wie aus Menschen Staatsbürger und aus Landschaften Hoheitsgebiete gemacht werden. Souveräne Schauspieler, eine bemerkenswerte Kamera und die konkrete Situierung der überschaubaren Geschichte öffnen einen universalen Deutungsrahmen. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
PROPAGANDA
Produktionsland
Türkei
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Plato Film Prod. Co.
Regie
Sinan Çetin
Buch
Sinan Çetin · Gülin Tokat
Kamera
Rebekka Haas
Musik
Sezen Aksu
Schnitt
Aylin Tinel
Darsteller
Metin Akpinar (Rahim) · Kemal Sunal (Mehdi) · Meltem Cumbul (Filiz) · Rafet El Roman (Adem) · Ali Sunal
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Diskussion
Momentan häufen sich in Kino und Fernsehen Beiträge, die sich mit dem 10-jährigen Jubiläum des Mauerfalls auseinander setzen, wiederholen sich die immer gleichen Bilder von der Bornholmer Straße in Berlin oder aus den besetzten Botschaften der Bundesrepublik in Prag und Budapest. Ausgerechnet aus der Türkei kommt jetzt ein Spielfilm ins Kino, der wie eine komödiantische Paraphrase auf die deutsche Teilung und Wiedervereinigung erscheint. Eine gelungene noch dazu. Denn was bei der hiesigen, stets die einzigartige historische Dimension der Ereignisse beschwörenden „Aufarbeitungsmaschinerie“ allzu kurz kommt – die Situation des einzelnen, des „einfachen“ Menschen – steht hier im Mittelpunkt. Wohlgemerkt: „Propaganda“ ist keine Parabel auf die deutsch-deutschen Ereignisse der letzten 50 Jahre; dazu ist der Film regional beziehungsweise religiös und ethnisch viel zu konkret angesiedelt. Seine Stärke besteht vielmehr darin, mit einer sehr genau erzählten, überschaubaren Geschichte einen ausgesprochen hohen Abstraktionsgrad zu erzielen. Was den porträtierten Familien in der äußersten Osttürkei widerfährt, hätte sich ebenso in anderen Regionen dieses Planeten zutragen können: etwa im Kosovo, in Irland oder eben in Deutschland.

1948: Die gesamte Bevölkerung des Dörfchens Hislihisar an der türkisch-syrischen Grenze ist angetreten, um Herrn Mehdi vom Bahnhof abzuholen. Der prominente Sohn des Ortes hat es in der Hauptstadt Ankara zum hochrangigen Uniformträger gebracht und kehrt nun als Zollamtsvorsteher zurück. In seinem Tross befinden sich Soldaten, Landvermesser und weitere Staatsbedienstete, aber auch viele Rollen Stacheldraht. Denn endlich soll die bis dahin kaum wahrgenommene Demarkationslinie zum Nachbarland in aller Form markiert und mit Befestigungsanlagen versehen werden. Mit akribischer Genauigkeit gehen die Beamten ans Werk. Wie sich herausstellt, befindet sich plötzlich ein Teil des Dorfes auf syrischen Terrain. Nachdem der Schlagbaum mit Wachturm feierlich in Betrieb genommen wurde, geht auch den Einwohnern nach und nach die ganze Tragweite dieser „staatlichen Maßnahme“ auf. Nicht nur, dass wichtige personelle Institutionen wie Arzt, Lehrerin, Dorftrottel und Hure dem Nachbarland zugefallen sind, ausgerechnet die Familie des Zollamtsvorstehers selbst sieht sich ungeahnten Konsequenzen ausgesetzt. Mehdis eigener Sohn Adem nämlich steht kurz vor der Heirat mit der schönen Filiz, die wie ihre gesamte Verwandtschaft per Federstrich einer anderen Nationalität angehört. Mehr noch: Filiz erwartet ein Kind von Adem; des Zollamtsvorstehers Enkel wird also ein Ausländerkind sein. Hin- und hergerissen zwischen Beamtenloyalität und familiärer Verstrickung sieht sich Mehdi einer zunehmenden Eskalation des Geschehens ausgesetzt. Sohn und Frau wenden sich von ihm ab, er verliert seinen besten Freund, steht aber gleichzeitig unter Rechtfertigungsdruck gegenüber seinen Untergebenen und Vorgesetzten. Als sich die Situation immer mehr zuspitzt, vermag er sich endlich vom Korsett der Uniform zu befreien.

Dieser Film ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert. Seine politische Brisanz wurde durch die Ansiedlung der Handlung in die unmittelbare Nachkriegszeit zwar etwas abgeschwächt, doch handelt es sich hier um ein rein äußerliches Zugeständnis. Denn obwohl es namentlich nie um Kurden geht, bleibt die permanente Tragödie dieses staatenlosen bzw. auf viele Staaten verteilten Volkes stets evident. Eindrucksvoll und doch voller Ironie wird vorgeführt, wie aus Menschen Staatsbürger und aus Landschaften Hoheitsgebiete gemacht werden beziehungsweise gemacht werden sollen. Denn die Macht der Liebe erweist sich einmal mehr als grenzüberschreitend, das Prinzip Hoffnung triumphiert über staatliche Willkür. Dabei enthält sich „Propaganda“ morali scher Thesenhaftigkeit ebenso wie komödiantischer Dünnbrettbohrerei. Gerade darin erweist sich der Film hiesigen Lustspielen meilenweit überlegen. Die Dramaturgie des geschlossenen Raumes wird präzise durchgespielt, der Humor staffelt sich in mehrere Ebenen, die Darsteller agieren souverän. Auch die Bildgestaltung der deutschen Kamerafrau Rebekka Haas trägt wesentlich zum Gelingen des Unterfangens bei: Ausgesuchte Tableaus, Weitwinkel- und Zeitlupenaufnahmen brechen immer wieder die durchaus vorhandenen guckkastenartige Ansätze auf und setzen starke sinnliche Akzente. Gern verzeiht man das etwas zu lang und zu pathetisch geratene Ende.
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