Wege in die Nacht

Drama | Deutschland 1999 | 98 Minuten

Regie: Andreas Kleinert

Der ehemalige Direktor eines Kombinats in der DDR findet sich auch Jahre nach der Wende noch nicht zurecht. Um seinem Dasein als Arbeitsloser einen Sinn zu geben, patrouilliert er mit zwei Jugendlichen als eine Art privater Sicherheitsdienst durch die Berliner U-Bahn. Eindringliches Porträt einer seelischen Erschütterung, das mit brillanten Schwarz-Weiß-Bildern und ausdrucksstarken Darstellern deutsche Gegenwartsbefindlichkeiten erkundet. Das inszenatorische Konzept operiert mit einem Minimum an Dialogen und vertraut ganz auf die Kraft der intensiven Bilder. - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1999
Produktionsfirma
Ö-Film/ZDF
Regie
Andreas Kleinert
Buch
Johann Bergk
Kamera
Jürgen Jürges
Musik
Andreas Hoge · Steven Garling
Schnitt
Gisela Zick
Darsteller
Hilmar Thate (Walter) · Cornelia Schmaus (Sylvia) · Henriette Heinze (Gina) · Dirk Borchardt (René) · Ingeborg Westphal (Kellnerin)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Dies ist ein Film fürs Kino, und nur fürs Kino. Schon die gewaltige Eingangstotale, mit der Andreas Kleinert bereits alles erzählt, raubt den Atem: Aus den Weiten einer menschenleeren Landschaft schwenkt die Kamera melancholisch-eindringlich auf eine Industrie-Ruine, kriecht in einen der nachtschwarz in den Himmel ragenden Kühltürme und fixiert eine winzige Person, die von einem Gerüst in die Tiefe starrt. Ein Endzeitfilm, eine deutsche Apokalypse, fern jeder Millienniumshysterie; das Jüngste Gericht hat längst getagt, irgendwann in den Monaten nach der Wende, ohne den Mann ins neue Jerusalem zu rufen. „Ein Totenreich“, sinniert Hilmar Thate später, als es ihn nachts immer wieder zwischen die zerborstenen Stahlbetontrümmer treibt. Viel erfährt man nicht über den massigen Mann mit dem zerfurchten Gesicht, die sich unentwegt an Zigaretten festhält und am Ende vollzieht, was längst besiegelt ist: den letzten Schritt ins Reich der Verdammten. Früher war er „Genosse Bergkamp“, wie er gelegentlich und noch immer unterwürfig gegrüßt wird, der mächtige Direktor eines DDR-Kombinats, das nach der „Abwicklung“ von Japanern gekauft und schließlich verschrottet wurde. Jetzt mäht er tagsüber verbissen den Rasen seines Schrebergartens und lebt von den Einnahmen seiner Frau, die in einem noblen Berliner Restaurant bedient. Was macht einer wie er, dem sein Gewissen verbietet, das Fähnlein nach dem Wind zu drehen? Walter glaubt, dass irgendwann eine neue, gerechtere Zeit anbrechen wird. Für sie hält er sich bereit, will ihr vielleicht sogar den Weg ebnen. Abends macht er sich auf und patrouilliert mit zwei Jugendlichen als eine Art privater Wachmannschaft in U- und S-Bahnen. Wenn er kaum merklich mit dem Kopf nickt oder eine Augenbraue hochzieht, stürzen sich seine Helfer auf pöbelnde Rowdies und schlagen sie blutig. Bis eines Tages der alte Machtmensch mit ihm durchgeht und er einen jungen Randalierer zwingt, aus dem fahrenden Zug zu springen.

Es bedarf kaum des Hinweises auf Kleinerts Nähe zur Bild- und Filmsprache Tarkowskijs (insbesondere zu „Stalker“, fd 22 921), um zu verstehen, dass sich hier einer radikal gegen die Geschwätzigkeit des neudeutschen Kinos auflehnt. Nichts in diesem bestechend fotografierten Protokoll einer Erschüttung erinnert an die momentane deutsche Filmproduktion, so knapp und präzise sind die stilistischen Mittel eingesetzt. Statt der üblichen Baukräne am Potsdamer Platz ein paar beiläufige Blicke auf Boulevards, Gesichter und außergewöhnliche Schauspieler anstelle erklärender Dialoge, ein klares Konzept und Jürgen Jürges als kongenialer „Bildgestalter“: mehr braucht Kleinert nicht, um eine der intensivsten filmischen Erkundungen über deutsche Gefühle umzusetzen. Solche Enthaltsamkeit widerspricht nur scheinbar den obligatorischen „Schauwerten“ neureichen Ausstattungschics, der hinter den kargen Dekors und einer fast statischen Kamera höchstens „Ostalgie“ vermuten ließe, in Wahrheit aber den Weg für die Wahrnehmung seelischer Abgründe und Verwüstungen frei macht. So genügt Kleinert ein einziges „Drum & Bass“-Stück, um die Vergeblichkeit von Walters immer verzweifelteren Versuchen zu kommentieren, doch noch auf den längst abgefahrenen Zug aufzuspringen: Während sich alte Seilschaften zu Streicherklängen über Aktienkurse ereifern, überlässt sich der Unangepasste dem Wirbel eines metallisch-stampfenden Rhythmus, für den er zu alt und zu müde ist. Wenn sich Walters Frau Silvia das Scheitern ihrer Anstrengungen, zu dem Verschlossenen durchzudringen, eingesteht, filmt Kleinert diesen eindringlichen Moment in einem langen Rückzoom, der jenseits einer Fensterscheibe zum Stehen kommt, in der sich das Leben auf der Straße spielt. Über weite Strecken dominieren Nahaufnahmen, mimische Nuancen und kleine Veränderungen, während die sparsam eingesetzten Totalen meist Korridore einfangen, die sich im Dunkeln verlieren oder als hermetisch abgeriegelte Zonen erscheinen.

„Wege in die Nacht“ fordert ein mitdenkendes „Lesen“ der Bilder. Was an ihm auf den ersten, flüchtigen Blick altmodisch und unzeitgemäß erscheint, verdankt sich einem starken Stilwillen, der für die Lähmung und innere Leere seiner Hauptfigur einen genuin filmischen Ausdruck findet. Die Kraft der Bilder und ihre schlüssige Montage eröffnen jedoch einen Freiraum, der sich nicht so schnell mit wohlfeilen Begriffen füllen lässt. Kleinert lässt die Geschichte eines Gescheiterten zwar in der Tragödie, aber nicht als Tragödie enden, weil die letzten Einstellungen einer Gruppe Kinder gehören, die sich die aufgerissene Kraterlandschaft als Spielplatz erobert haben. Mit den wissenden Augen des Mädchens, das sich einen Fußball aus einer Pfütze angelt, schlägt er den Bogen zurück zu Silvia, die mit den veränderten Zeitläuften längst Frieden geschlossen hat. Ein Schlussbild wie aus „Das süße Leben“ (fd 9260), mit dem sich Kleinert vielleicht auch dagegen versichert, restaurativ missverstanden zu werden.
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