Die Liebenden des Polarkreises

- | Spanien/Frankreich 1998 | 112 Minuten

Regie: Julio Medem

Die Liebe zweier junger Menschen, die sich bereits als Kinder kennen lernen, sich dann aus den Augen verlieren, sich Wiederbegegnen und am finnischen Polarkreis zueinander finden. Ein schillernder Film, erdacht als emotionales Puzzle, das durch die verschiedenen Blickwinkel der beiden Protagonisten eine ambivalente Doppelbödigkeit erhält. Getragen von spröder Poesie, feiert er die Liebe sowie den Zufall und meidet trotz seiner märchenhaften Form stets folkloristische Gemeinplätze. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LOS AMANTES DEL CIRCULO POLAR | LES AMANTS DU CERCLE POLAIRE
Produktionsland
Spanien/Frankreich
Produktionsjahr
1998
Produktionsfirma
Sogetel/Sociedad/Le Studio Canal+
Regie
Julio Medem
Buch
Julio Medem
Kamera
Gonzalo Fernandez Berridi
Musik
Alberto Iglesias
Schnitt
Iván Aledo
Darsteller
Najwa Nimri (Ana) · Fele Martínez (Otto) · Nancho Novo (Alvaro) · Maru Valdivielso (Olga) · Peru Medem (Otto als Kind)
Länge
112 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Heimkino

Verleih DVD
e-m-s (16:9, 2.35:1, DD5.1 span./dt.)
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Ein Auto fährt durch Madrid. Vorne zwei Erwachsene, hinten zwei Kinder. Ana und Otto. Zwei Kinder, die einfach zusammenfinden müssen, weil sie beide einen Namen tragen, der sich vorwärts oder rückwärts geschrieben gleich lesen lässt. Das Auto fährt durch die Stadt und noch in der selben Einstellung altern und reifen die Protagonisten. Der klapprige Kleinwagen wird zur komfortablen Mittelklassenlimousine, Ottos Vater und Anas Mutter werden älter - Ana und Otto kommen in die Pubertät. „Die Liebenden des Polarkreises“ erzählt von der Liebe, vom Lauf der Zeit und besonders vom Zufall magischer Momente. Die Liebe zwischen beiden beginnt 1980, als sie aus ganz unterschiedlichen Gründen aus der Schule rennen und sich zum ersten Mal tief in die Augen schauen. Ana und Otto - als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene - eine Zeitspanne, die 17 Jahre umfasst. Sie finden und verlieren sich, ihre Wege laufen parallel, kreuzen sich, um sich am finnischen Polarkreis wieder zu finden. „Die Liebenden des Polarkreises“ entwickelt sich aus zwei unterschiedlichen Erinnerungen. Julio Medem erzählt die Ereignisse abwechselnd aus der Perspektive Anas und Ottos und schafft so eine Doppelbödigkeit, die Doppelbödigkeit des Thrillers oder die grausame Ambivalenz eines Kindermärchens. So auch das Ende des Films - Otto in den Augen von Ana - das glückliche oder das tragische Ende. „Jede Liebe ist ein Stück Selbstprojektion“ meint Medem. Sein Film fasziniert besonders durch die unterschiedlichen Erinnerungen, durch die Projektion des Unbewussten. Medem konturiert die Geschichte durch den permanenten Wechsel der narrativen Perspektive. Eine Geschichte, die sich im Kopf fast interaktiv als emotionales Puzzle zusammensetzt - die Struktur, die Fantasien, Off-Stimmen, Rückblenden, die Verbindung von Humor und tragischen Momenten schafft die Medem eigene spezifische magische Distanz.

Die Geschichte von Ana und Otto spielt auf drei zeitlichen Ebenen, mit jeweils drei unterschiedlichen Darstellern. Als Kinder - hier verkörpert Medems Sohn Peru den kleinen Otto - als Heranwachsende, die ihre erste sexuelle Annäherung erfahren und als junge Erwachsene, die sich längst aus dem Augen verloren haben. Die Unterschiedlichkeit der Darsteller der verschiedenen Lebensphasen verkompliziert den Ablauf des Films, steht aber auch für die Überlebenskraft der Liebe über den scheinbar völligen Wandel der Personen hinweg. Dazu führt auch das traumwandlerische, ebenso gefühlsstarke wie abwesende Zusammenspiel der beiden Hauptfiguren als junge Erwachsene: Ana (Najwa Nimri) und Otto (Fele Martinez). Beeindruckend ist auch das Spiel der Nebendarsteller: Mit Nancho Novo als Vater, der vom fröhlichen Hippie über den ehrgeizigen Aufsteiger bis hin zum vereinsamten alten Mann einen schweren Weg geht, zeichnet der Film das Psychogramm einer ganzen Generation in Spanien. Der ferne Norden ist die große Sehnsucht, die Utopie: Von hierher stammte Ottos tote Mutter, und auch der deutsche Flieger, der Urahn Ottos, der im spanischen Bürgerkrieg über dem Baskenland abgeschossen und mit Ottos Großvater die letzte Zigarette rauchte - und hierhin zieht es Ana, um sich selbst zu finden, während Otto als Postkurier über das ewige Eis fliegt. Finnland ist für den Regisseur kein konkretes Land, sondern „ein Raum, den sich die Liebenden geschaffen haben, um quasi exklusiv ihre Liebe leben zu können“. In seinem Film, so Medem, handle vieles von der ewigen Liebe oder von der Tatsache, dass das Leben über Zufälle organisiert ist. „Die eigentlich wichtige Landschaft in meinem Film sind die Gesichter“ sagt Medem, doch wie in seinen drei vorhergegangenen Filmen beschreibt er Gefühle über räumliche Zusammenhänge, über Landschaften und Plätze, zeichnet selbst urbane Zusammenhänge so, dass sich das Herz Madrids, die „Plaza Mayor“, wie eine freie Bergfläche ausnimmt. In einer der beeindruckendsten Szenen des Films sitzen Ana und Otto in einem Café, sitzen fast nebeneinander und sehen sie sich einfach nicht - der Zufall ist der wichtigste Protagonist des Films. Zufall als Schicksal.

Innerhalb des spanischen Film zeichnet sich Medem durch einen ganz besonderen Stil aus. Er ist in seiner rätselhaften Ruhe ein Gegenpol zur fiebrigen Überdrehtheit und Exzentrik eines Pedro Almodóvars. Medem hat wenig mit den schrillen folkloristischen Gemeinplätzen des spanischen Films zu tun. „Die Liebenden des Polarkreises“ lässt sich nur schwer in einer Fünf-Zeilen Synopsis zusammenfassen, weil Medem als Meister der spröden Poesie eine einfache, unprätentiöse Geschichte erzählt, ein Märchen, das jenseits der Klischees und aus den unterschiedlichen Erinnerungen der beiden Protagonisten konstruiert zu immer neuen Überraschungen und Rätseln führt. Ein Film über die Macht des Zufalls, über die Sehnsucht nach der Utopie der Liebe.

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