Hinter der Sonne

- | Brasilien/Frankreich/Schweiz 2001 | 92 Minuten

Regie: Walter Salles

Zwischen zwei brasilianischen Familien im Nordosten des Landes herrscht seit Generationen Blutrache, die immer wieder das Leben der ältesten Söhne fordert. Bildgewaltiges Drama, das in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts angesiedelt ist und auf historische Vorgänge zurückgreift, sich jedoch weniger als analytische Deutung denn als grundsätzliche Parabel über Gewalt und Gegengewalt versteht. Gerade darin aber erliegt sie trotz der wuchtigen Erzählsprache einer eher schwindsüchtigen Aufdringlichkeit. - Ab 14 möglich.
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Filmdaten

Originaltitel
ABRILE DESPEDACADO | AVRIL BRISE
Produktionsland
Brasilien/Frankreich/Schweiz
Produktionsjahr
2001
Produktionsfirma
VideoFilmes/Haut et Court/Dan Valley AG
Regie
Walter Salles
Buch
Walter Salles · Sérgio Machado · Karim Ainouz
Kamera
Walter Carvalho
Musik
Antonio Pinto
Schnitt
Isabelle Rathery
Darsteller
José Dumont (Vater) · Rodrigo Santoro (Tonho) · Rita Assemany (Mutter) · Luis Carlos Vasconcelos (Salustiano) · Ravi Ramos Lacerda (Pacu)
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14 möglich.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Buena Vista (16:9, 2.35:1, DD5.1 port./dt.)
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Diskussion
Im Nordosten Brasilien hängt der Himmel tief über dem ausgetrockneten Land, doch nur selten verdunkeln Wolken den Horizont. Seit dem Wiederstarken des brasilianischen Kinos Mitte der 90er-Jahre zieht es junge Filmemacher verstärkt in diese Region, die mehr als der wirtschaftlich prosperierende Südosten Garant kultureller Identität zu sein scheint. Auch Walter Salles kehrt in seinem jüngsten Film dorthin zurück, wo die Suche von „Central Station" (fd 33 459) endete: in die lehmgraue Weite der Sertão. Ein kurzes Insert datiert die arachische Geschichte in die 20er-Jahre des letzten Jahrhunderts. Schauplatz ist ein einsames Gehöft, das von einer riesigen Zuckerrohrpresse dominiert wird. Tagaus, tagein treibt ein finsterer Mann zwei Stiere im Kreis, während seine Frau und die beiden Söhne die Pflanzen in die hölzerne Quetsche schieben. Der schäumende Saft wird später in der Hütte nebenan eingekocht und in handliche Formen gegossen; dafür gibt es im fernen Dorf ein paar Pfennige. Salles braucht nur wenige Einstellungen, um die Unerbittlichkeit eines freudlosen Existenzkampfs spürbar zu machen: die sengende Hitze, den Staub und den Schweiß, vor allem aber eine bleierne Ausweglosigkeit, die sich wie Mehltau über das Geschehen legt. Doch nicht allein die wirtschaftliche Not hat sich tief in die verbitterten Züge der zerlumpten Gestalten gegraben; dunkler noch lodern Schmerz und Hass, die aus einer blutigen Familienfehde rühren. Seit Generationen tobt zwischen den Breves und ihren Nachbarn, den Ferreiras, ein Kleinkrieg, dessen Ursprünge nur noch formelhaft in Landstreitereien erinnert werden, seither aber einen stetigen Blutzoll fordern, weil die Auseinandersetzung dem Gesetz der Blutrache folgt. Drei Monate flackert das Blut verschmierte Hemd von Tonhos Bruder im Wind, bis sich die roten Flecken gelb zu färben beginnen: das Signal, dass die Schonfrist für den Mörder verstrichen ist. Obwohl ihn sein kleiner Bruder Pacu verzweifelt abzuhalten versucht, schultert Tonho das Gewehr und legt sich auf die Lauer, bis ein Schuss den anbrechenden Morgen zerreißt und sich der Älteste der Ferreiras-Söhne am Boden wälzt. Nach der Beerdigung hängt vor dem Anwesen der Ferreiras ein Hemd in der Sonne; und eine neue Frist hat zu laufen begonnen. In Brasilien sind solche Fälle der Blutfehde verbürgt, obwohl die Vorlage für den Film ein Roman des albanischen Schriftstellers Ismail Kadaré war. Mit Abschaffung der Sklaverei Ende des 19. Jahrhunderts begann der Einfluss der Plantagenbesitzer zu schwinden, während sich im Gegenzug die Viehzüchter der brachliegenden Flächen bemächtigten. Eine Form, solche Konflikte in gewissen Grenzen zu halten, bildete offensichtlich die streng reglementierte Blutrache nach dem Grundsatz Auge um Auge, Zahn um Zahn. Der historische Kontext wird bei Salles so präzise wie dezent angedeutet, weil es ihm weniger um eine analysierende Deutung als eine grundsätzliche Parabel über den Teufelskreis von Gewalt und Gegengewalt geht. Der blinde Zwang des Tötens, der ein Opfer nach dem Anderen fordert, wird im Film aus zwei unterschiedlichen Perspektiven aufgebrochen; einmal aus der des kleineren Bruders Pacu, einem fantasievollen Kind, das Geschichten erfindet und sein Erfahrungen darin kreativ verarbeitet, zum anderen durch die Liebe in Gestalt einer jungen Gauklerin, die Tonho zumindest zeitweise aus der Enge des Verhängnisses lockt. Pacu kennt noch keine „Werte" wie Pflicht oder Ehre; er folgt kindlichen Impulsen, nicht dem Zwang der Verhältnisse. Auch Clara bewegt sich außerhalb der gesellschaftlichen Normen, reist von Ort zu Ort und schwingt sich in die Lüfte, wenn es ihr am Boden zu drückend wird. Die „rohe symbolische Kraft", die Salles für die Romanvorlage einnahm, gerinnt im Umfeld dieser Figuren immer wieder zu eindringlichen Sinnbildern: Clara lässt sich von Tonho am Seil so lange um ihre Achse wirbeln, bis Tag und Nacht ineinander fließen; die Kamera, die ansonsten die beschränkte Sicht ihrer Protagonisten teilt, schraubt sich mit ihr in die Höhe und tanzt wie hypnotisiert; Pacu läuft bereits in die Eingangssequenz unter einem bedrohlichen Gewirr aus Zweigen entlang; selbst Tonho vermag sich, berauscht von Liebesgefühlen, für Momente dem Rhythmus einer Schaukel anzuvertrauen, die ihn die Todesnähe entreißt und in ein milchig blaues Universum hebt. Doch obwohl man der bildmächtigen Inszenierung wegen ihres wuchtigen Scope-Formats und einer bestechenden Farbdramaturgie gerne applaudieren wollte, mischt sich Widerstand in die Rezeption. Der Grund dafür liegt in der gesuchten Parabelhaftigkeit, weniger in misslungenen Szenen oder dem distanzierten Erzählton, der sich den gängigen Regeln des Identitfikationskinos entzieht. Im Bemühen, die Mechanik des blutigen Ausgleichs als archaisch-destruktives Räderwerk der Vergeltung in Szene zu setzen, reduziert Salles die Individualität seiner Figuren aufs Äußerste; den Mangel an psychischer Grundierung sollen die eindringliche Bildsprache und brasilianische Motiv-Traditionen wie die Bilder vom Himmel und vom Meer ausgleichen. Für die europäische Sichtweise funktioniert dies jedoch meist nur in Kombination mit sakraler Naivität wie in Pasolinis „1. Evangelium – Mattäus" (fd 13 400) oder einer poetisch-stilisierten Sphäre wie in de Sicas „Das Wunder von Mailand" (fd 1618). Wo es hingegen um soziale oder politische Mythen oder Theorien geht, hat das Kino im Gegenteil immer gut daran getan, theoretische Elemente des Überbaus so sehr mit der Story und den Figuren zu amalgieren, dass sie gelegentlich kaum noch wahrgenommen werden. Was auf der literarischen Ebene auch im Film gut funktioniert – die gegenseitige Durchdringung und Verwandlung von Fiktion und gesellschaftlicher Wirklichkeit in Pacus fantastischen Geschichten – , misslingt filmisch, weil der reale Widerpart einer wirklichen Welt fehlt. Was umso tragischer ist dies, als sich Salles und sein Kameramann Walter Carvalho einmal mehr als wahre Magier des Bildes erweisen.
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