Ten Minutes Older - The Trumpet

- | Deutschland/Großbritannien 2002 | 93 Minuten

Regie: Aki Kaurismäki

Episodenfilm von sieben namhaften Regisseuren über das Thema "Zeit". Fast immer meisterhaft fotografiert, umfassen die Zehn-Minuten-Filme das hektische Leben einer Schauspielerin, die Halluzinationen eines Autofahrers, die Erinnerungsfantasien eines älteren Mannes, die ersten Tage im Leben eines todgeweihten Kindes, die Tragik einer langen Wahlnacht, eine ungewöhnliche Nicht-Liebesgeschichte, und die Entwicklung eines von der Zivilisation lange unberührten Urwaldstammes. Ihre besondere Atmosphäre erhält die Kompilation durch ihr verbindendes Zwischenelement: von einer jazzigen Solo-Trompete unterlegte Lichtspiegelungen auf einem ruhigen Fluss als Metapher für das Verstreichen der Zeit. Die einzelnen Filmtitel: 1. "Dogs Have no Hell" ("Hunde haben keine Hölle"); 2. "Lifeline" ("Lebenslinie"); 3. "Ten Thousand Years Older" ("Zehntausend Jahre älter"); 4. "Int. Trailer. Night" ("Int. Wohnwagen. Nacht"); 5. "Twelve Miles to Trona" ("Zwölf Meilen bis Trona"); 6. "We Wuz Robbed" ("Wir sind reingelegt worden"); 7. "100 Flowers Hidden Deep" ("100 Blumen im Verborgenen"). (O.m.d.U.; Fortsetzung: Ten Minutes Older - The Cello) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
TEN MINUTES OLDER - THE TRUMPET
Produktionsland
Deutschland/Großbritannien
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Road Movies/Matador/Odyssey/Ruedo/Nautilus Films
Regie
Aki Kaurismäki · Victor Erice · Werner Herzog · Jim Jarmusch · Wim Wenders
Buch
Aki Kaurismäki · Victor Erice · Werner Herzog · Jim Jarmusch · Wim Wenders
Kamera
Timo Salminen · Olli Varja · Angel Luis Fernández · Vicente Rios · Frederick Elmes
Musik
Paul Englishby · Eels
Schnitt
Julia Juaniz · Joe Bini · Jay Rabinowitz · Mathilde Bonnefoy · Barry Alexander Brown
Darsteller
Kati Outinen (die Frau) · Markku Peltola (der Mann) · Ana Sofia Llaño (Mutter) · Pelayo Suarez (das Neugeborene) · Tari
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Auch wenn „Ten Minutes Older“ erst nach „11‘09“01“ (fd 35 706) ins Kino kommt, liegen die Wurzeln dieses Episodenfilms namhafter Regisseure schon drei Jahre zurück. Es waren Milleniums-Philosophien, die den Produzenten Nicolas McClintock auf die Idee brachten, das Thema „Zeit“ in Kurzfilmen zu behandeln. Aus der Idee ist ein Projekt geworden, an dem sich 15 Regisseure beteiligten, woraus zwei Filmprogramme entstanden: „Ten Minutes Older: The Trumpet“ und „Ten Minutes Older: The Cello“. Der erste enthält sieben Kurzfilme von jeweils zehn Minuten Länge und als verbindendes Element zwischen ihnen quasi einen achten, der der schönste ist – wegen seiner Einfachheit. Gemäß dem vorangestellten Motto „Die Zeit ist ein Fluss“ filmte McClintock die Lichtreflexe auf einem Fluss in Cambridge in impressionistischer Manier, wie Jean Renoir zu Beginn und am Ende von „Eine Landpartie“ (fd 3 947), nur in Farbe (vorwiegend blau), unterlegt mit einer Trompeten-Improvisation des afrikanischen Jazz-Musikers Hugh Masekela und seinem Trio. Dessen glasklare, ruhig fließende Melodielinien – sie entstanden direkt, nachdem der Musiker die Kurzfilme gesehen hatte – bilden einen roten Faden, ihr Duktus geht einem nicht mehr aus dem Kopf und sorgt für die richtige Stimmung, sich auf dieses wahrscheinlich schönste Kurzfilm-Abenteuer der letzten Jahre einzulassen. Aki Kaurismäkis „Dogs Have No Hell“: Witzig. Zehn Minuten Zeit bleiben einem gerade aus dem Gefängnis entlassenen Gangster, um den Zug nach Sibirien zu erwischen, wo er schon immer arbeiten wollte. Doch er will nicht allein in die Fremde, er sucht eine Ehefrau. Der kauzige Mann mit Hut und Koffer ist zwar alles andere als attraktiv, aber in einer tristen Bar trifft er seine frühere Freundin, die gleichgültig einwilligt - wenn sie einen Ring bekommt. Ohne in der Kürze der Zeit Hektik zu verbreiten, wirkt diese typische Kaurismäki-Geschichte in sich rund. Dafür sorgen wie immer die klassischen Typen, ihre stumme Komik und die schöne Tristesse, die Raum für Hoffnung lässt. Victor Erices „Lifeline“: Kompliziert. Der in Deutschland wenig bekannte Spanier zeigt ein neugeborenes Baby. Es schläft, sein Mutter auch. Ein dunkler Fleck auf den Windeln (der Film ist schwarz-weiß) deutet an, dass etwas Unheimliches geschieht. Ein Junge malt sich eine Armbanduhr ans Handgelenk und lauscht daran. Frauen rennen hektisch in der Küche herum, Männer mähen mit Sicheln das Gras. Der dunkle Fleck wird immer größer, die Mutter singt ein Schlaflied. Der Junge wischt sich die Uhr wieder weg, das Baby scheint wohl nicht zu überleben, der Blick der Kamera fällt auf eine Zeitung, die berichtet, dass am 28. Juni 1941 die Nazis in Spanien aufgetaucht sind. Dass Erices Film bis zum Schluss rätselhaft bleibt, liegt nicht nur an fehlenden Geschichtskenntnissen, sondern an der Beiläufigkeit, mit der er erzählt und immer wieder zwischen Elementen springt, deren Zusammenhang man erst am Schluss erahnt. Werner Herzogs „10 000 Years Older“: Lehrreich. 1981 wurde im brasilianischen Urwald ein Indianerstamm entdeckt und gefilmt, der zuvor noch nie mit der Zivilisation in Berührung kam. Einer der Krieger erhielt einen Wecker als Geschenk. 20 Jahre später haben Windpocken und Erkältungen den Stamm fast ausgerottet. Nur drei Männer leben noch und sind inzwischen „zivilisiert“. Sie haben Fernseher, Autos und das Stadtleben kennen gelernt und hatten Sex mit weißen Frauen. Er wolle ein guter Brasilianer werden und spreche auch schon portugiesisch, sagt einer der ehemaligen Krieger. Den Wecker besitzt er noch; er weiß aber auch, dass die Zeit für seinen Stamm abgelaufen ist. Herzog kombiniert das alte Material mit seinen Aufnahmen, unterlegt alles mit seiner streng-monotonen Off-Stimme und erzählt so meisterhaft eine Geschichte über die Relativität von Zeit und Fortschritt. Jim Jarmuschs „Int. Trailer. Night“: Rastlos. Die Schauspielerin im 20er-Jahre-Partykleid hat zehn Minuten Pause, die sie in ihrem Wohnwagen verbringt. Doch aus der Entspannung zu Bachs „Goldberg Variationen“ wird nichts, weil dauernd die Tür aufgeht. Die Assistentin fragt, ob sie Essen bringen soll; bringt es wenig später auch; die Kostümbildnerin überprüft das Kleid; die Maskenbildnerin die Haare; währenddessen ruft ihr Freund an und will wissen, ob sie ihn liebt. Trotzdem bleibt die Schauspielerin in diesem Schwarzweiß-Film umso gelassener, je nervtötender die anderen sind. Trotz der räumlichen Enge eine interessant fotografierte Studie einer hart arbeitenden Frau, die sich in ihr Schicksal fügt. Wim Wenders‘ „Twelve Miles to Trona“: Berauschend. Der Autofahrer auf dem einsamen Highway wird immer panischer. Sein Herz fängt zu rasen an. Zwölf Meilen sind es bis zur nächsten Stadt, wo es vielleicht ein Krankenhaus gibt. Vergeblich hatte er zuvor auf einen Kunden gewartet und dabei Plätzchen gegessen. Mehr als seine Magenschmerzen beunruhigt ihn, dass seine Sehnerven verrückt spielen: Straßenränder verschwimmen, die laute Rockmusik dröhnt immer verzerrter. Bis ihn in letzter Minute eine Autofahrerin zum Krankenhaus mitnimmt. Auch wenn Wenders Road Movie als Polizei-Spot durchgehen könnte, vor dem Autofahren keine Drogen zu nehmen, trifft der Film gerade in der wohldosierten Umsetzung der optischen und akustischen halluzinogenen Effekte ein Maß, das die Anspannung des Autofahrers wirkungsvoll auf die Zuschauer überträgt. Spike Lees: „We Wuz Robbed“. Aufwühlend. Erinnert sich noch jemand an den Wahlkrimi vom 7. November 2001? Damals wurde im Fernsehen zuerst Al Gore als Wahlsieger von Florida und damit zum US-Präsidenten ausgerufen – und ein paar Stunden später George Bush. Spike Lee lässt die Männer und Frauen aus Gores Team zu Wort kommen; die Hektik der Wahl, die Ergebnisfolge und die Reaktionen schlagen sich im Schnitt und in der Kürze der Statements wieder. Dennoch ist der schwarz-weiße Dokumentarfilm kein Lamentieren, sondern harsche Medien- und Machtkritik: „Dass das Fernsehen Bush in dieser Nacht zum Sieger ausrief, und dass Gore anruft und kapituliert, hat der ganzen Nachzählung geschadet“, heißt es da, denn in den Augen der Amerikaner sei Bush nicht der gewählte Präsident gewesen. Nicht die Wähler, sondern der oberste Gerichtshof habe die Wahl entschieden, als er die Nachzählung stoppte. Ein Film, der zeigt, wie schnell inzwischen selbst wichtige politische Ereignisse vergessen sind. Chen Kaiges „100 Flowers Hidden Deep“: Fantasievoll. Ein Mann in Peking beschwatzt vier Männer einer Umzugsfirma, ihm beim Umzug zu helfen. Doch als sie in dem Außenbezirk ankommen, steht dort kein Haus, das sie leer räumen könnten; dieses sieht nur ihr Auftraggeber. Um kein Geld zu verlieren, versuchen sich die Vier in Pantomime und tun so, als würden sie schwere Gegenstände heben. Der Umzügler ist begeistert, bis er „sieht“, wie eine wertvolle Vase zu Bruch geht. Er ist verzweifelt, findet aber wenig später eine reale Glocke, die wohl wirklich in seinem Haus war und erinnert sich in einer schönen Tricksequenz an das prächtige Haus. Chen Kaige hat eine humorvolle Parabel über die schmerzvolle Ausmerzung alter Lebenskultur zugunsten gesichtsloser Hochhaus-Siedlungen gedreht – und damit über das Verschwinden der alten Zeit, mit dem auch ein Teil der Persönlichkeit unwiederbringlich verloren geht. Abgesehen von einer gewissen Beliebigkeit des Umgangs mit der Zeit – was an der Allgemeingültigkeit und Vielseitigkeit des Themas liegt – bieten die Filme sehr unterschiedliche Ansätze von dokumentarisch bis spielerisch und provokativ. Auch wenn man nicht alle mag: Die handwerkliche Qualität ist ebenso beachtlich wie die Tatsache, dass keiner der Filme langweilig ist.
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