- | Mexiko/Spanien 2002 | 122 Minuten

Regie: Carlos Reygadas

Ein älterer schweigsamer Mann reist in die mexikanische Provinz, um sich das Leben zu nehmen. Allein eine alte Frau, bei der er unterkommt, gibt dem Verzweifelten wieder Lebensmut. Beeindruckendes, mit Laien gedrehtes Erstlingswerk, das die kargen Lebensverhältnisse und die grandiose Landschaft in betörende Bilder und Töne von geradezu halluzinatorischer Wirkung fasst. Die Themen Tod, Sexualität und Erlösung führt der Film mit mitunter drastischen Mitteln vor, bettet sie aber stets schlüssig und nachvollziehbar in die archaischen Kreisläufe ein. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
JAPON
Produktionsland
Mexiko/Spanien
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
NoDream Cinema/Mantarraya Prod.
Regie
Carlos Reygadas
Buch
Carlos Reygadas
Kamera
Diego Martínez Vignatti
Musik
Arvo Pärt · Dmitri Schostakowitsch · Johann Sebastian Bach
Schnitt
Carlos Serrano Azcona · Daniel Melguizo · David Tottes
Darsteller
Alejandro Ferretis (Der Mann) · Magdalena Flores (Ascen) · Yolanda Villa (Sabina) · Martín Serrano (Juan Luis) · Rolando Hernández (Der Richter)
Länge
122 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Diskussion
Faszination und Schrecken, Poesie und Tabubruch, landschaftliche Schönheit und menschliche Grausamkeit führt dieser außergewöhnliche mexikanische Film zusammen. Dabei entzieht er sich gängigen Erzählmustern und erzählt doch eine ganz archaische Geschichte von nahendem Tod und möglicher Erlösung. Fast wie bei Abbas Kiarostami wird der Blick zu Beginn eine Zeitlang durch eine schmutzige Windschutzscheibe gelenkt. Zu sehen sind zunächst die Ausfallstraßen von Mexiko-Stadt und danach eine erst öde, dann zunehmend unwirklich-betörende Landschaft im wilden Hochland der Provinz Hidalgo. Der Anhalter, ein etwa 60-jähriger dürrer Mann ohne Namen, steigt aus, gestützt auf einen Stock, und bewegt sich, humpelnd, aber bestimmt und scheinbar zielgerichtet immer tiefer in die bergige Einöde. Was er hier wolle, wird der Schweigsame gefragt, und seine Antwort ist: sich umbringen. Er findet Unterkunft im Haus einer alten Frau namens Ascen (von Asunción, Himmelfahrt), malt grobe Bilder in Öl, und während die übrigen Bewohner des Fleckens ihn eher meiden, scheinen gerade diese beiden alten Menschen, der verzweifelte Atheist und die genügsame Gläubige, dieselbe Sprache zu sprechen. Als ein Neffe der Frau das Haus Stein für Stein wegnehmen will, ist der Mann zur Stelle, um ihr Recht zu verteidigen, muss aber einsehen, dass er sich den fremden, brutalen Sitten der Gegend zu beugen hat. Trotzdem findet er über den Kontakt und die emotionale Bindung zur Alten ins Leben zurück. Wie die Hauptfigur, so malt auch der junge Regisseur Carlos Reygadas impressionistische Bilder an der Grenze zur Abstraktion. Es ist ihre Perspektive des Beobachtens und zugleich tiefen Auf-sich-wirken-Lassens, die der Film spiegelt. Die Landschaft mit ihren unendlichen, mal kargen, mal grünen Ebenen, den tiefen Schluchten, den sich sekundenschnell ändernden Wetter- und Lichtverhältnissen bildet die Kamera in langen Einstellungen ab, teilweise in 360-Grad-Schwenks. Dazu ertönt Musik von Bach und Arvo Pärt, sind die übersteigerten Geräusche der Natur zu hören – oder auch gar nichts. Das Sounddesign steigert das Suggestive der Bilder bis hin zu halluzinatorischer Kraft. Die Hauptfigur selbst hilft noch nach, indem sie Marihuana raucht oder sich gemeinsam mit den männlichen Einwohnern betrinkt und eine subjektive Kamera dabei seinen Blick übernimmt. Reygadas hat seinen Film mit einfachen Mitteln gedreht, mit einer 16mm-Kamera und ausnahmslos Laiendarstellern; das Material wurde dann auf 35mm und CinemaScope aufgeblasen. Die Beweglichkeit der Ausrüstung machte er sich zunutze und erzielt damit eine fast dokumentarische Wirkung, die sich mit den mystischen Landschaftsaufnahmen ebenso reibt wie ergänzt – bis sich am Ende beides in einem bildgewaltigen, tragischen Finale verbindet. Aber Reygadas will mehr zeigen als ein Leben im Abseits, er will Tod und Verzweiflung, Glauben und Sexualität in ihrem ganzen Ausmaß darstellen und ihre Präsenz in dieser abgelegenen Welt. Dafür wählte er Bilder, deren Drastik oft schockiert: von einem verwesenden Pferd etwa und kurz danach vom Liebesakt zweier Pferde, kichernd beäugt von der Dorfjugend, aber auch vom Sex zwischen dem Fremden und Ascen, was zugleich ein Akt der Verzweiflung und der Erlösung ist. Ascen, die Witwe, die sonst nur ein Abbild Jesu küsst, erkennt offenbar ihre Rolle als Erlöserin und fügt sich mit derselben Demut, mit der sie ihren Neffen das Haus zerstören lässt. In dieser Szene wiederum ließ Reygadas den Satz eines Mitwirkenden ungeschnitten, der sich darüber beklagt, dass „die Leute vom Film“ ihnen zu wenig Pulque, also Schnaps, geben würden – als wollte der Regisseur damit zeigen, wie schmal der Grat zwischen Gezeigtem und Gelebtem in seinem Film ist. Das hätte es kaum gebraucht, zumal das nur ein Aspekt dieses beeindruckenden Werkes ist. Der andere ist sein Umgang mit Tabus, die im erzkatholischen Mexiko noch sehr präsent sind. Aber gerade indem er diese Tabus auf suggestive Weise in den Kreislauf des Lebens und der Natur einfügt, nimmt er ihnen ein wenig von ihrem Schrecken.
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