Drama | Deutschland 2003 | 90 Minuten

Regie: Christian Petzold

Der junge Angestellte eines Autohauses bei Wolfsburg verursacht einen Unfall, bei dem ein Junge verletzt wird, und begeht Fahrerflucht. Wochen später erliegt das Kind seinen Verletzungen. Seine Mutter macht sich auf die Suche nach dem Täter, in den sie sich verliebt, ohne seine Schuld zu kennen. Konzentriert erzählter Film, dessen einfache moralische Geschichte durch die elegante Inszenierung, komplexe Subtexte sowie einen stupenden soziologischen Reichtum zur tiefgreifenden Reflexion über Erkennen und Verkennen, Schuld und Sühne, Sprechen und Schweigen wird. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
teamWorx/ZDF/arte
Regie
Christian Petzold
Buch
Christian Petzold
Kamera
Hans Fromm
Musik
Stefan Will
Schnitt
Bettina Böhler
Darsteller
Benno Fürmann (Phillip Wagner) · Nina Hoss (Laura Reiser) · Antje Westermann (Katja) · Astrid Meyerfeldt (Vera) · Matthias Matschke (Scholz)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar des Regisseurs.

Verleih DVD
epix (16:9, 1.85:1, DD2.0 dt.)
DVD kaufen

Diskussion
Er würde ihr damals „nicht wie ein Teufel erschienen sein, wenn er ihr nicht, bei seiner ersten Erscheinung, wie ein Engel erschienen wäre“. An Kleists „Die Marquise von O.“ muss man bei Christian Petzolds neuem Film wiederholt denken. Auch in „Wolfsburg“ wird eine oberflächlich ganz einfache moralische Geschichte durch die Eleganz und den Reichtum ihrer Erzählung zu einer Reflexion über Erkennen und Verkennen, über Schuld und Sühne, über Sprechen und Schweigen. Phillip Wagner, Angestellter eines Autohauses in der Nähe von Wolfsburg, überfährt durch eine Unachtsamkeit auf einer einsamen Landstraße einen Jungen und begeht Fahrerflucht. Sein schlechtes Gewissen treibt ihn tags darauf ins Krankenhaus, doch da scheint gerade alles einigermaßen glimpflich zu verlaufen, weshalb er sich nicht offenbart. Kurz aber begegnet er Laura Reiser, der Mutter des Unfallopfers. In der Folge versucht Wagner, durch eine Auslandsreise etwas Struktur in sein Leben zu bringen. Währenddessen stirbt der Junge, dessen Mutter aufgrund von älteren Schuldgefühlen in tiefe Depression verfällt und allenfalls noch Rachegedanken gegen den flüchtigen Unfallfahrer hegt. Sie sucht auf Schrottplätzen nach Spuren des Unfallwagens. Beide begegnen einander erneut, als er sie vor einem Selbstmord bewahrt. Sie kommen einander behutsam näher, doch die Beziehung, die auf einer Lüge gründet, hat keine Chance. Eine Fluchtgeschichte, die zu einer Liebesgeschichte wird, bevor sie zu einer Rachegeschichte umkippt, darüber aber bis zum Schluss nie vergisst, dass da kurzzeitig das Potenzial einer Liebesgeschichte vorhanden war. Zugleich erzählt „Wolfsburg“ auch eine Geschichte über Autos, Kotflügel, Autohäuser, Tankstellen, Industriegebiete am Rande der Städte, Handys und Überwachungskameras – kurz: Szenen aus dem beschädigten bundesdeutschen Leben, wo Menschen wie Philip Wagner oder Laura Reiser fast somnambul ihrer entfremdeten Erwerbsarbeit nachgehen, wo Liebesgeschichten längst gescheitert sind, wo man entweder derart nebeneinander her lebt, dass man beim Ins-Bett-Gehen schon mal die Geliebte im Wohnzimmer vergisst. Oder wo alleinerziehende Mütter einander durchs Leben zu helfen versuchen. Wer hier von Liebe spricht, gerät in den Verdacht, jemanden zu manipulieren, so, wie man Menschen manipuliert, denen man ein Auto andrehen will. Der Tod des Jungen bricht die Panzer des alltäglichen Sich-Fügens und Funktionierens bei Phillip und Laura auf, man könnte sagen: Phillips Menschwerdung trifft auf Lauras Verzweiflung; ein, zwei Zeichen einer vergleichbar störrischen Sensibilität für Zwischentöne in der Spaßgesellschaft synchronisieren beider Geschichten für kurze Zeit, bis die fundamentale Asymmetrie ihrer Beziehung mörderische Konsequenzen zeitigt. Mit „Wolfsburg“ hat Petzold ein weiteres Puzzle-Stück zu seiner filmischen Ethnografie des Inlands abgeliefert. Wie eine Chiffre fungiert Wolfsburg innerhalb dieser als Statthalter einer Alltagsrealität jenseits hiesiger, längst modisch abgefilmter Metropolen. Wolfsburg ist Stuttgart ist Leverkusen ist Mannheim. Es sind Orte ohne Geschichte und ohne Identität, nach dem Krieg hektisch modernisiert, gewissermaßen um das Auto herum organisiert – mit Ausfallstraßen, Umgehungsstraßen und Verkehrsleitsystemen. Die industrielle Reproduktion funktioniert weitgehend unter Verzicht auf die menschliche Arbeitskraft (wie der Blick der Überwachungskamera auf Lauras Arbeitsplatz zeigt), die Wohnungen der Menschen sind kühl-funktional eingerichtet, die Menschen bewegen sich darin wie Fremde, die sich viel lieber in ihre Autos setzen und „einfach so“ durch die Gegend fahren. Konflikte werden per Handy aus dem Auto heraus ausgetragen und durch Zuhilfenahme banalsten Psycho-Jargons abgewürgt. Hier sind der Worte zumeist genug gewechselt. Der konsequente und umfassende Pessismismus über die Lebensbedingungen hierzulande käme einem aufgesetzt vor, wären Petzolds Filme nicht von einem stupenden soziologischen Reichtum, dem es immer wieder gelingt, die filmische Choreografie der Dingwelt schlüssig mit dem Verhalten der Figuren kurzzuschließen und so überzeugend zu verdichten. Dass Phillips Unfallwagen ein NSU „Ro 80“ ist, weil dies das einzige Fahrzeug mit „Wankelmotor“ ist, mag etwas „over the top“ sein; jedenfalls ist es ein Glücksfall, dass dieser Fernsehfilm den Weg ins Kino findet. Wie schon „Toter Mann“ (fad 34 435) handelt auch „Wolfsburg“ von Getriebenen, die ihr Handeln der Rache für elementare Verletzungen verschrieben haben; beide Filme handeln davon, dass die Menschen für dieses Leben nicht gefertigt sind. „Wolfsburg“ stellt gewissermaßen eine Inversion von „Toter Mann“ dar, gespiegelt entlang der Darstellerachse Nina Hoss und Sven Pippig; ist in „Toter Mann“ der Mann der Opfer einer Intrige der geheimnisvollen Frau, so wird in „Wolfsburg“ die Frau zum zweifachen Opfer des merkwürdigen Mannes. Dass die Opfer-Täter-Dialektik dabei stets an Komplexität gewinnt, ist ein Reichtum der Filme Petzolds – ebenso wie die Tatsache, dass er diese thematische Nähe zweier aufeinander folgender Filme mit B-Film-Professionalität zu realisieren wusste und dabei zudem noch die Zeit findet, sich en passant vor Hitchcock und Antonioni zu verbeugen.
Kommentar verfassen

Kommentieren