Agnes und seine Brüder

Drama | Deutschland 2004 | 111 Minuten

Regie: Oskar Roehler

Die melodramatische, zunehmend tragische Familiengeschichte einer jungen Frau, die einmal ein Mann war, ihres Vaters sowie ihrer beiden Brüder, einem sexbesessenen Voyeur mit Alkoholproblem und einem gutbürgerlichen Politiker, der immer mehr Mühe hat, "normal" zu bleiben. Kein Thesenfilm, sondern ein vitaler, mosaikartig gewebter Diskurs mit mancherlei Leerstellen und Assoziationsangeboten, der eine verunsicherte, um Identität und Glück ringende Gesellschaft zeigt. Das hervorragende, strikt gegen den Strich besetzte Darsteller-Ensemble verlebendigt in mitreißender Spiellaune die Figuren, die viel Raum zur Entwicklung bekommen und ihre psychischen Verletzungen und frustrierten Glückserwartungen offenbaren.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
X Filme Creative Pool/WDR/BR/arte
Regie
Oskar Roehler
Buch
Oskar Roehler
Kamera
Carl-Friedrich Koschnick
Musik
Martin Todsharow
Schnitt
Simone Hofmann
Darsteller
Martin Weiß (Agnes) · Moritz Bleibtreu (Hand-Jörg) · Herbert Knaup (Werner) · Katja Riemann (Signe) · Tom Schilling (Ralf)
Länge
111 Minuten
Kinostart
14.10.2004
Fsk
ab 16; f
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. ein Feature mit sechs im Film nicht verwendeten Szenen (6 Min.).

Verleih DVD
Warner (16:9, 2.35:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Agnes, die/der einmal ein Mann war, erzählt aus seiner Kindheit, über der ein Schleier des Schweigens liegt. Mit seinem Vater Günther kann er nur über seine Mutter sprechen, wenn der völlig betrunken ist – und was dann herauskommt, ist dreiste Kolportage, die freilich ein Licht auf die heroischen Gründungsmythen der 1960er- und 1970er-Jahre wirft. Agnes, so die Fama, wurde in einem „Fluchtauto“ geboren, und ihrer/seiner Mutter Renate Lehmhof sei in Stammheim mit einem Feuerlöscher das Gesicht zertrümmert worden. Wofür es aber, abgesehen von der mündlichen Überlieferung durch den Vater, keine Beweise gäbe. Agnes’ Fazit, gleichsam als Exposition vorgetragen: „Es gibt so viel, was in unserer Familie nicht bewältigt ist.“

Die Frau, die diese Selbstreflexion mit der Videokamera dokumentiert und einmal sehr nachdrücklich ins Bild gerückt wird, heißt Roxy und wird von Margit Carstensen gespielt, deren integrale Rolle im Fassbinder-Clan bereits Christoph Schlingensief und Romuald Karmakar referenziell produktiv zu machen wussten. Mit einfachsten Mitteln gibt Oskar Roehler also Themen und Tonart vor, die „Agnes und seine Brüder“ über weite Strecken charakterisieren: Es geht um etwas, das gern verklärend „Familienbande“ genannt wird, das Alexander Kluge einst (nicht zufällig in der Mitte der 1970er-Jahre) in die wirkungsvolle Formel von der „Kleinfamilie als Terrorzusammenhang“ goss. Es geht aber um familieninterne Kommunikation, besser: um kommunikatives Beschweigen von Familiengeschichte und -konflikten, dargeboten zunächst in der Form einer fast schon schmerzhaft zugespitzten Farce. Wollte man im Fassbinder-Kosmos bleiben, müsste man wohl davon sprechen, dass „Agnes und seine Brüder“ ein eigenwilliger Mix aus „Satansbraten“, „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ und „In einem Jahr mit 13 Monden“ ist.

Da ist Hans-Jörg, der ständig schwitzende Voyeur, der sich vereinsamt auf das Masturbieren zu Pornofilmen „spezialisiert“ hat. Hans-Jörg glaubt sich daran zu erinnern, dass Agnes vom Vater missbraucht wurde, hat eine Therapie hinter sich und nimmt an einer Selbsthilfegruppe für Sexsüchtige teil. Er arbeitet in einer Bibliothek, in der es von schönen Studentinnen nur so wimmelt, die ihn in seinen zu kurzen Hosen und mit seiner unmodischen Frisur schlicht übersehen. Dafür verfolgt er sie bis auf die präparierte Toilette. Zudem hat Hans-Jörg ein Alkoholproblem. Dann ist da Werner, der älteste Bruder, der es, wie Vater Günther etwas ratlos feststellt, „bis ins Fernsehen gebracht“ hat, weil er sich als Grünen- Politiker für die Einführung des europäischen Dosenpfands stark macht, teilweise gegen den Widerstand der eigenen Fraktion. Werner ist verheiratet, hat zwei Kinder, einen Hund, ein ambitioniert gestaltetes Eigenheim und einen Chauffeur. Doch hinter der gutbürgerlichen Fassade sieht er sich einem Abgrund an Verachtung gegenüber und muss immer mehr Mühe aufwenden, um „normal“ zu bleiben. Seine Frau Signe hat längst den Kontakt zu ihm abgebrochen, sein Sohn Ralf belauert ihn mit der Videokamera. Werner rächt sich damit, dass er den Müll nicht trennt, die Nähe zu seinem Hund sucht (dieses Motiv taucht pervertiert an anderer Stelle abermals auf) und hingebungsvoll seine Vegetarierfamilie mit Grillwürstchen traktiert. Und da ist Agnes, die/der sich einst aus Liebe zur Frau umoperieren ließ. Agnes ist vielleicht gerade deshalb die reine Figur dieser durch und durch neurotischen Männergesellschaft, leidet an einem gebrochenen Herzen und verströmt eine grundsätzliche Traurigkeit, weshalb die kleinbürgerliche Ignoranz ihres eifersüchtigen Freundes Rudi sie fast nicht er- reicht. Abgesehen davon ist Agnes grundgütig, verständnisvoll und menschenfreundlich. Wenn Werner seinen Vater Günther nennt, sagt Agnes zärtlich „Vati“.

Gewiss handelt es sich bei diesen mit Verve von einem hervorragenden, strikt gegen den Strich besetzten Darstellerensemble in mitreißender Spiellaune interpretierten Figuren um zur Kenntlichkeit verzerrte Karikaturen; sie bekommen allerdings im Verlauf des Films viel Raum zur Entwicklung, sodass der Zuschauer wider Erwarten Empathie entwickeln kann. Je länger der Film dauert, desto sichtbarer werden die ernsthaften psychischen Verletzungen und frustrierten Glückserwartungen der Figuren. Glänzend einmal mehr Roehlers Dialoge: Signe empfindet Werners grobe Annäherungsversuche als „so mühsam“ und verachtet seine „Ignoranz“, Hans-Jörg gibt den „Hampelmann“, den die bloße Aussicht auf etwas Liebe aberwitzig manipulierbar macht. Die Frustration, die aus fortwährend in Frage gestellten Glücksvorstellungen erwächst, führt zur Gewalt, die sowohl Werner (in einer Amok-Fantasie) als auch Hans-Jörg (zunächst noch am leblosen Ersatzobjekt) nicht ausleben können.

Nach knapp einer Stunde ist der Film am Nullpunkt angekommen, die Darsteller wirken erschöpft und ratlos. In dieser Situation erfährt Agnes, dass sie tödlich erkrankt ist – und die Farce schlägt in ein Melodram um, das um Erniedigung, Verlust und Tod kreist. Nun bedient sich Roehler neben Fassbinder eher bei Filmen wie „American Beauty“ (fd 34 066), „Der Eissturm“ (fd 32 888) oder „Happiness“ (fd 33 595). Während die sterbende Agnes (= Agnus Dei) stellvertretend die Opferrolle übernimmt, richtet sich Werners Kleinfamilie in einer Art Burgfrieden ein, während Hans-Jörg seine Traumfrau bei einer Pornoproduktion findet. So entwerfen die drei Geschichten drei unterschiedliche Biografien, für die individuelle Tonlagen gewählt werden, drei Handlungsoptionen: Abhauen, Weiterleben oder Sterben. Roehler hat den Film drastisch überdeterminiert, weshalb sein erklärter Anspruch, etwas zur aktuellen deutschen Befindlichlichkeit in Filmbildern fixieren zu wollen, durchaus eingelöst wird. Allerdings handelt es sich weniger um einen Thesenfilm als um einen bruchstückhaften Diskurs, ein mosaikhaftes Rauschen mit mancherlei Leerstellen und mäandernden Assoziationsangeboten, das eine verunsicherte, um Identität und Glück ringende Gesellschaft zeigt. Einerseits zentriert sich die Handlung um die mächtige, egozentrische und selbstgerechte Vaterfigur, hinter der unschwer die Generation von „1968“ zu erkennen ist, der Selbstverwirklichungsanspruch den Raum der nachfolgenden Generation auch noch beansprucht.

Jede der drei Hauptfiguren bekommt einen sinnfälligen Song aus den 1970er-Jahren zugewiesen, der für unterschiedliche Post-68er- Lebensentwürfe stehen kann: „Stuck in the Middle with you“ (Stealer’s Wheel) für Werner, „Love is the Drug“ (Roxy Music) für Agnes und „Radar Love“ (Golden Earring) für Hans-Jörg – der ausgesparte Song für Vater Günther wäre wohl „Forever Young“ (Bob Dylan). Wenn ganz am Schluss die Turtles „Happy Together“ singen, hat man etwas über die gegenwärtig gängige Münze für derlei pragmatische Versöhnung erfahren; insofern wirkt der Film wie ein verzweifelter Befreiungsschlag, der sich selbst kraftlos sein Scheitern unterstellen muss. Hans-Jörg und seine Freundin beschließen jedenfalls, dieses trostlose Land hinter sich zu lassen. Wenn sie nach Bagdad fahren, um dort „den Menschen“ zu helfen, dann klingt das fast wie eine veritable Drohung, über deren politische Dimension sich diskutieren ließe. Mit Hans-Jörgs zynischem Kalkül irgendwohin zu fahren, „wo gerade ein Anschlag war, denn dort kommen die Arschlöcher nicht hin“, befindet sich Roehler jedenfalls auf Augenhöhe mit seinem erklärten Vorbild Michel Houellebecq; was durchaus als Kompliment gemeint ist.

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