- | USA 2004 | 100 Minuten

Regie: Todd Solondz

Nach einer von den Eltern erzwungenen Abtreibung reißt eine Zwölfjährige aus und schließt sich christlichen Fundamentalisten an, die gottgefällig leben und Unrecht ahnden, indem sie Mordanschläge auf Abtreibungsärzte verüben. Radikales Drama von Todd Solondz, das zwischen Satire und Zynismus changiert und viele ernst gemeinte Denkanstöße gibt. Der Film zeichnet das Bild eines Landes, dessen Bewohner sich in einem ideologischen Kulturkampf befinden, wobei er dem Zuschauer immer wieder den sicher geglaubten Boden unter den Füßen entzieht. Bereits die Besetzung der Hauptfigur durch acht verschiedene Darstellerinnen erstickt Identifikationsprozesse im Keim. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
PALINDROMES
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Extra Large Pic.
Regie
Todd Solondz
Buch
Todd Solondz
Kamera
Tom Richmond
Musik
Nathan Larson · Matthew Brookshire · Eytan Mirsky · Curtis Moore
Schnitt
Mollie Goldstein · Kevin Messman
Darsteller
Stephen Adly Guirgis (Joe/Earl/Bob) · Ellen Barkin (Joyce Victor) · Richard Masur (Steve Victor) · Debra Monk (Mama Sunshine) · Jennifer Jason Leigh (Aviva)
Länge
100 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; nf
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.

Heimkino

Verleih DVD
Alamode (16:9, 1.85:1, DD2.0 engl./dt.)
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Diskussion
Todd Solondz beschreibt mit irritierendem Sarkasmus weiter die umfassenden Beschädigungen des Lebens von Menschen, die in ein Puppenheim („Willkommen im Tollhaus“, fd 32 220) eingesperrt sind und ihren persönlichen Vorstellungen von Glück („Happiness“, fd 33 595) vergeblich nachjagen. Sein Pessimismus macht es einem nicht leicht: Besonders „Happiness“ stieß auf vehemente Kritik und veranlasste ihn, auf provokante Weise die Differenz zwischen Authentizität und Fiktion mit einem Ensemble unsympathischer Figuren zu reflektieren („Storytelling“, 2001), was seinen vorangegangenen Filmen rückwirkend eine faszinierende Doppelbödigkeit verlieh. „Palindrome“ stellt dies in der Exposition deutlich heraus: Der Film beginnt mit „dokumentarischen“ Aufnahmen der Trauerfeier für Dawn Wiener, die sich umgebracht hat. Sie war die Protagonistin in „Willkommen im Tollhaus“, die sich vergeblich um Liebe und Anerkennung mühte. Während der Trauerfeier ist vom Spannungsverhältnis zwischen ihren musikalischen Ambitionen und ihrer Talentlosigkeit die Rede. Dawns weitere Geschichte wird von der kleinen Aviva erzählt, die gehört hat, dass Dawn Opfer einer Vergewaltigung wurde und sich umbrachte, weil sie keine weitere Dawn in die Welt setzen wollte. Aviva aber will viele Babys bekommen, weil sie dann immer etwas zum Liebhaben habe. Später werden zwei Pubertierende beim Betrachten von Kinderfotos darüber sprechen, dass sie wohl eine glückliche Kindheit hatten, es nur nicht bemerkten. Man könne also nicht mit Bestimmtheit ausschließen, gerade jetzt glücklich zu sein. Jahre später wird die zwölfjährige Aviva tatsächlich schwanger. Sie will ihr Baby austragen, doch ihre Eltern setzen eine Abtreibung durch, bei der Aviva unfruchtbar wird. Sie reißt von zu Hause aus, wird vergewaltigt und kommt bei christlichen Fundamentalisten unter, die einen Hort für geistig und körperlich herausgeforderte Kinder betreiben. Die Darstellung dieser Familie wirkt wie eine Travestie von Fernsehfamilien à la „Die Waltons“, verbunden mit Referenzen zu Tod Brownings „Freaks“ (1932). Um Jesus zu preisen, nicht aber um von ihm zu profitieren, machen die Kinder unter dem Namen „Sunshine Singers“ als christliche Popgruppe Furore. Doch wenn die Familie nicht damit beschäftigt ist, gottgefällig zu leben und zu singen, versucht sie, wie es in einem ihrer Lieder heißt, Unrecht in Recht zu verwandeln – zum Beispiel, indem man Mordanschläge auf Abtreibungsärzte plant und ausführt. Solondz zeichnet ein düsteres Bild der USA als einem Land, dessen Bewohner mitten im ideologischen Kulturkampf stecken, der ins Mörderische umzukippen droht. Er erzählt davon mit präzisen Szenen, die eine labile Balance zwischen Satire und Zynismus halten, wobei er sich einer expliziten Position zum Gezeigten enthält. So existieren die Denk- und Sprechverbote der „political correctness“ neben dem christlichen Fundamentalismus, Bigotterie neben Pädophilie, sozialer Determinismus neben Erlösungssehnsüchten. Als Avivas Mutter erfährt, dass ihre Tochter schwanger ist, steht für sie fest, dass das Kind abtreiben muss; und weil jeder Mensch in Solondz‘ Kosmos seine kleine Geschichte hat, erzählt die Mutter von einer eigenen Abtreibung, die sie nach einem langen Gespräch mit ihrem Mann aus ökonomischen Gründen vornehmen ließ. Aviva aber will nur wissen, wie das abgetriebene Kind wohl geheißen hätte. „Henry“, antwortet die Mutter. Später wird Aviva ihr abgetriebenes Baby „Henrietta“ taufen und sich unter diesem Namen ein Alter ego ausdenken. Die Herzlosigkeit und Oberflächlichkeit ihrer Eltern ist peinigend, später aber sieht man die Abtreibungsgegner vor der Klinik und ist gezwungen, das Bild erneut zu revidieren. Immer wieder verschiebt Solondz die Gewichte, bis man ebenso ratlos ist wie der Filmemacher selbst. Gerade, wenn man die Familie Sunshine als drastische Satire auf das christliche Familienmodell erkannt zu haben glaubt, führt „Palindrome“ auf eine Müllkippe, auf der die abgetriebenen Babys von den „Baby-Killern“ entsorgt werden. Durch einen simplen Kunstgriff wird der Betrachter immer wieder auf sich selbst zurückgeworfen: Solondz hat die Figur der Aviva durch acht verschiedene Darsteller besetzt, und von Szene zu Szene muss man eine Haltung zu einer sich ständig verändernden Figur einnehmen, Identifikationsprozesse reflektieren und über die Prinzipien filmischen Erzählens nachdenken. Erinnert man sich an Kants Prämisse, dass Aufklärung der Mut sei, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, dann ist „Palindrome“ ein aufklärerischer Film im Zeichen der Vernunftkritik. Neben dem Besetzungscoup charakterisiert den Film ein weiterer Manierismus: der des Titels. Ein Palindrom ist ein Wortspiel, eine Lautfolge, die vorwärts wie rückwärts gelesen denselben oder einen anderen Sinn annimmt. „Aviva“ ist solch ein Palindrom, aber auch „Sarg“; und dass aus „God“ schnell „Dog“ werden kann, ist eine populäre blasphemische Binsenweisheit. Am Ende wird Aviva wieder schwanger sein, ein Lernprozess hat auf Ebene der Figuren nicht stattgefunden. Ein junger Mann, der aufs Palindrom zu sprechen kommt, heißt Mark Wiener und ist Dawns Bruder. Er steht im Verdacht, ein Pädophiler zu sein und wird sozial geächtet. Auf Avivas „Willkommen Zuhause“-Party darf er seine Weltanschauung darlegen. Mark schätzt am Palindrom dessen Unveränderlichkeit, so wie er die Menschen generell für unveränderlich hält, für „Gene und Zufälle, mehr nicht, und nichts davon ist von Bedeutung“. Für ihn gibt es keinen freien Willen, sondern nur den programmierten genetischen Code der Natur. Moralisch ist diese Form des Determinismus indifferent, weshalb sich Mark auch gleich widerspricht, wenn er seine Anwesenheit auf der Party damit erklärt, dass er sich einen Funken von Würde zu bewahren versucht habe. Dass er kein Kinderschänder ist, steht für Aviva fest, denn „Pädophile lieben Kinder“ – und Mark liebt nicht einmal sich selbst. Mit der ihm eigenen Indifferenz und leicht angewiderten Distanz zu seinen Figuren ist der Film in seiner trostlos zirkulären Struktur ein Exempel der Unverbindlichkeit, die er selbst registriert. „Palindrome“ ist mit seiner Manie, sämtlichen ideologischen Konventionen den Boden unter den Füssen wegzuziehen, ein eminent politischer Film, dürfte es mit seiner forcierten Negativität allerdings schwer haben, ein Publikum zu erreichen, das von dieser Cleverness zu profitieren wüsste.
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