Unternehmen Paradies

Dokumentarfilm | Deutschland 2002 | 60 Minuten

Regie: Volker Sattel

Filmisches Essay über Berlin, dem es auf eine fast beiläufige Weise gelingt, komplexe Zusammenhänge zu fixieren. Die prägnanten, dem amorphen Zeitstrom entrissenen Bilder fügen sich zu einer Collage über Urbanität, Masse und Verlorenheit. Damit emanzipiert sich der wunderbar komponierte Film von seinem äußerlich abgegriffenen Thema, gibt dem Objekt der Beobachtung im Umkehrschluss einen Teil seiner Unschuld zurück. Er fiktionalisiert die Realität nicht, entdeckt vielmehr in ihr Tendenzen öffentlicher Inszenierung, wobei es sein Verdienst ist, die unterschwelligen Schwingungen, die im Zusammenspiel den Charakter eines urbanen Gefüges ausmachen, aufzunehmen und sanft zu verstärken. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Büro für Film und Gestaltung/Box!Film
Regie
Volker Sattel
Buch
Volker Sattel
Kamera
Volker Sattel
Musik
Tim Elzer
Schnitt
Stephan Krumbiegel · Volker Sattel
Länge
60 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Heimkino

Verleih DVD
Filmgalerie451 (16:9, 1.85:1, DD2.0 dt.)
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Diskussion
Noch ein Berlin-Film? Wieder Potsdamer Platz, S-Bahn und Siegessäule? Love Parade, Straßenkampf und Stroboskop-Geflacker? Hat man das nicht schon alles bis zum Überdruss gesehen? Lässt sich auf Dauer nicht auch eine Stadt zu Tode fotografieren? Volker Sattels „Unternehmen Paradies“ weist auf den ersten Blick alle Zutaten auf, aus denen all die anderen zwischen Tourismuswerbung, Zeitgeist-Behauptung und Bildschirmschonung angesiedelten Hauptstadtfilme zusammengesetzt sind. Aber Sattels Film ist anders: Dem völlig unprätentiösen Essay gelingt es auf fast beiläufige Weise, komplexe Zusammenhänge zu fixieren. Seine prägnanten, dem amorphen Zeitstrom entrissenen Bilder fügen sich zu einer vielschichtigen Collage über Urbanität, Masse und Verlorenheit. Damit emanzipiert sich der Film schnell von seinem äußerlich abgegriffenen Thema, gibt dem Objekt der Beobachtung – der Stadt Berlin – im Umkehrschluss einen Teil seiner Unschuld zurück.

„Unternehmen Paradies“ wurde bereits 2002 gedreht und zwei Jahre später fertig gestellt. Wenn der Film nun im Kino anläuft, ist er einerseits selbst schon Geschichte; andererseits erweist er sich als überaus aktuell – weil seine Perspektive eben keine der Bestätigung, sondern eine der Neugier ist. Die Aufgeschlossenheit der Beobachtung überträgt ihre Spannung auf den Zuschauer. Wie schon in seiner mittellangen Hamburg-Dokumentation „040“, die 1999 als Abschlussarbeit an der Ludwigsburger Filmakademie entstand, nimmt sich Sattel auch bei seinem Berlin-Porträt viel Zeit, um dem Organismus der Stadt näher zu kommen und ihren Pulsschlag aufzuspüren. Er fokussiert das Periphere, findet gerade in den Nischen Überraschungen und baut aus ihnen kleine, lose miteinander verzahnte Erzählungen. Spürbar ist auch der noch unverstellte Blick des Filmemachers auf seine neue Wahlheimat: er macht in ihr Details und Zusammenhänge aus, die durch die Alltäglichkeit der Wahrnehmung sonst verschliffen sind und übersehen werden. Eines zusätzlichen Erklärungsapparats bedarf es dabei nicht, im Gegenteil – was im Film auf visueller oder akustischer Ebene existiert, wird integraler Bestandteil der choreografischen Gesamtkonzeption. Auch Tim Elzers Musik liefert niemals atmosphärische Kommentare, artikuliert vielmehr eine eigenständige, kontrapunktisch wirkende Stimme.

Unwillkürlich assoziiert sich bei solchen Berlin-Filmen Walter Ruttmanns „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (1927). Gewiss, ein direkter Vergleich mit diesem Klassiker verbietet sich. Interessanter als die Ähnlichkeiten fallen ohnehin die Unterschiede aus. Obwohl einige Schauplätze in beiden Filmen vorkommen, könnte ihre ikongrafische Wirkung kaum unterschiedlicher sein. Bestand bei Ruttmann der Grundtenor dieser Stadt aus purer Dynamik, die sich im Gebaren von Architektur, Verkehr und Passanten reproduzierte, erscheint bei Sattel das städtische Umfeld als Kulisse, bespielt von Statisten. Nicht zufällig ist aus dem Off mehrfach das Stimmen von Instrumenten zu vernehmen, erinnert die strenge Kadrierung der Bildkomposition an die eines Spielfilms. „Unternehmen Paradies“ verweist ästhetisch eher auf Ulrich Seidl als auf Ruttmann. Der Film fiktionalisiert die Realität nicht, entdeckt vielmehr in ihr Tendenzen öffentlicher Inszenierung. Wenn Gerhard Schröder sich auf das Eintreffen von Bill Clinton vorbereitet, steht er vor Hunderten Mikrofonen und Kameras natürlich auf einer Bühne. Ebenso – wenn auch auf geringerem Niveau – die ausschwärmenden Werberinnen einer PR-Aktion, die Touristen in eingeübten Sätzen die Vorzüge eines Produktes nahe legen. Es wird viel gegähnt, auf die Uhr geschaut, auf der Stelle getreten in diesem Film. Der Kanzler, seine Leibwächter, die Anzugträger in den grell beleuchteten Büros, auch die Konsumenten, Bettler, Demonstranten und das übrige Personal – sie alle scheinen sich im Interim zwischen zwei Auftritten zu befinden, ohne zu bemerken, dass das Stück schon längst läuft. Thomas Schadts Remake von „Berlin – Die Sinfonie der Großstadt“ (fd 35 387) war ein filmisches Missverständnis. Die werkgetreue Adaption des Klassikers mag eine Herausforderung gewesen sein; indem er jedoch lediglich Montage und Drehorte rekapitulierte, verfehlte er den aktuellen Rhythmus der Metropole. Sattels Verdienst ist es, die unterschwelligen Schwingungen, die in ihrem Zusammenspiel den Charakter eines urbanen Gefüges ausmachen, aufzunehmen und sanft zu verstärken. Damit hat er eine adäquate Form für sein Unterfangen gefunden. Sein Film reiht sich ein in die Tradition wichtiger Städteporträts von Alexander Hackenschmid über Prag (1930), Weegee über New York (1948) oder Agnès Vardas Paris-Porträt (1958).

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