Aus der Ferne

Dokumentarfilm | Deutschland 2005 | 93 Minuten

Regie: Thomas Arslan

Dokumentarischer Reisefilm von Thomas Arslan, der im Frühsommer 2005 zwei Monate lang die Türkei von Westen nach Osten durchquerte. Statt bei malerischen Sehenswürdigkeiten weilt der Film lieber bei städtischen Alltagsszenen, in Nebenstraßen und Schulhöfen, um medial nicht verzweckte Bilder über das Leben in der Türkei zu finden. Ein ruhiger, konzeptionell strenger, fast wortloser Film, dessen konzentrierte Einstellungen eine aktive Rezeption erfordern, dafür aber mit unverfälschten Einblicken und einer authentischen Annäherung belohnen. (Teils O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Pickpocket Filmprod./ZDF/3sat
Regie
Thomas Arslan
Buch
Thomas Arslan
Kamera
Thomas Arslan
Schnitt
Bettina Blickwede
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Einen solchen Film wünschte man sich auch über das eigene Land. Von einem, dessen Eltern hier geboren wurden, die dann aber ihr Glück in der Ferne suchten; der selbst auch ein paar Jahre hier gelebt hat, also die Sprache versteht und mit einer Mischung aus Neugier und Distanz einmal quer durch die Republik reist. Welchem Land würde man dann wohl auf der Leinwand begegnen? Im Fall von Thomas Arslan ist es eine gänzlich unbekannte Türkei, die sich in keinem Reiseführer findet, obwohl seine Route von Istanbul über Gaziantep und Van bis an die iranische Grenze den Pfaden der Rucksacktouristen folgt. Doch statt bei malerischen Sehenswürdigkeiten weilt der Film lieber bei banalen Alltagsszenen, in Nebenstraßen oder einer kleinen Nähstube, und selbst auf den langen Fahrten durch Anatolien und das östliche Hochgebirge gleiten auch die imposantesten Landschaften unbeachtet links und rechts aus dem Blickfeld. Wer mit dem schmalen Werk des deutsch-türkischen Filmemachers (u.a. „Dealer“, fd 19 708, „Der schöne Tag“, fd 35 089) vertraut ist, erkennt schon in der ersten Einstellung Arslans Handschrift des geduldigen, aufmerksamen, manchmal insistierenden Hinschauens: ein langer, stiller Blick aus dem Halbdunkel des Hotelzimmers über das steinerne Häusermeer und den Bosporus hinweg; ein unspektakuläres, den Filmtitel aber präzise umspielendes Motiv, das in kleinen Variationen in jeder Stadt wiederkehrt, in der Arslan auf dem Weg in den Osten Station macht. Der „Reisende“, der hier unterwegs ist, bleibt ein beobachtender Fremder, einer, der das Unvertraute aushalten kann und nicht gleich das Interesse verliert, wenn sich die ihm begegnende Wirklichkeit nicht auf Anhieb erschließt. Mit kurzen, unprätenziösen Sätzen aus dem Off informiert Arslan manchmal über historische, geografische oder persönliche Details, etwa über das verfallene Geburtshaus seines Vaters in Ankara, vor dem seine Tante aus der Kindheit erzählt, das einzige „Interview“ des Films. Die autobiografische Folie – der in Braunschweig geborene und dort aufgewachsene Arslan besuchte vier Jahre lang die Grundschule in Ankara – bleibt in diesem weitgehend wortlosen Reisefilm zwar ständig präsent, ist jedoch so unauffällig, dass sie eigentlich erst im Nachhinein zu entschlüsseln ist, beispielsweise in der Vorliebe für Pausenhöfe und musizierende Schülergruppen. Doch gerade aus dieser Spannung, fremd und doch nicht ganz ohne Kenntnis zu sein, „objektiv“ mit dokumentarischer Kamera zu beobachten und dennoch auch in die eigene Erfahrungswelt hinein zu horchen, bezieht „Aus der Ferne“ seine Tiefenschärfe. Die wunderbare Eingangssequenz enthüllt exemplarisch, wie Arslans asketische Filmsprache in der Kombination aus strenger Kadrage, sorgfältiger Motivwahl und einer offenkundig von Bresson beeinflussten Dramaturgie die Welt zum Sprechen bringt. Nach dem langem Blick aus dem Hotelfenster setzt die Kamera mit einer Fähre über den Bosporus. Aus dem Schiffsinneren verfolgt sie mit einer statischen Halbtotalen, wie das Boot rückwärts am Pier festmacht, wobei sich die Passagiere vor dem gleißend blauen Himmel als tiefschwarze, gesichts- wie geschichtslose Silhouetten abheben. Einen Zwischenschnitt später ist sie in Brusthöhe in einer Istanbuler Bahnhofshalle postiert, wo in Realzeit die Reisenden eines eingefahrenen Zuges an ihr vorbei fließen: Männer, Frauen und Kinder, Junge und Alte, Bartträger und Verschleierte, Yuppies, Hausfrauen und Rentner. Eine bunte, großstädtische Vielfalt, die man in aller Ruhe zur Kenntnis nimmt, weil die Länge und Komposition der Einstellungen, ihre Montage und die lediglich mit Originaltönen „orchestrierte“ Tonspur einen Erzählfluss generieren, der beinahe unmerklich eine Art Mini-Soziologie der türkischen Gesellschaft entwirft. Doch Arslan geht es nicht um plakative Eindeutigkeit, ganz im Gegenteil. Die Idee zu diesem dokumentarischen Road Movie entstand in den Monaten, als die öffentliche Türkei-Hetze in Deutschland ihre hässlichsten Blüten trieb. Um nicht selbst „bei den grassierenden Sprachmustern und ihren entsprechenden Bebilderungen zu landen“, suchte Arslan nach Wegen, „überhaupt einmal ein Bild [der Türkei] zu bekommen, das nicht sofort einer Theorie zuzuschlagen oder die bloße Illustration von etwas Vorgefertigtem ist“. Das Beiläufige der Bilder, ihr unspektakulärer Charakter resultiert aus diesen Überlegungen, die zunächst nichts weiter als zufällige Momentaufnahmen sind, ein Hochzeitstanz kurdischer Frauen, Straßenkontrollen durch das Militär, Bauarbeiter bei der Pause, ein junges Paar im Auto-Scooter, die roten Rücklichter der Autokolonne nach einem abendlichen Fußballspiel, die Nationalhymne vor Schulbeginn, zwei alte Männer, die sich auf der Straße grüßen. Das strenge formale Konzept einer unkommentierten Aufmerksamkeit zwingt auf der 2000 Kilometer langen Reise jedoch wie von selbst, nach Themen, Motiven und Korrespondenzen zu fahnden, wozu Arslan eingangs implizit auch ermuntert. Dort hat er zwei kleine Szenen platziert, die augenzwinkernd über die eigenen Prinzipien Auskunft geben: eine Schulklasse im Museum, die den ästhetischen Strategien eines Malers auf die Spur zu kommen versucht, sowie den türkischen Regisseur Nuri Bilge Ceylan, der sich mit seinem Cutter den Kopf darüber zerbricht, wie zwei Szenen effektiver miteinander verbunden werden können. Auf diese Weise dezent dazu animiert, den Nuancen, Stimmungen und Querverweisen der Filmbilder nachzugehen, entdeckt man in den konzentrierten Einstellungen neben der vitalen Fülle und Widersprüchlichkeit des städtisch-urbanen Daseins wie von selbst vieles, was an zentrale Diskurse der Gegenwart anschließt, etwas das Verhältnis von Modernisierung und Tradition, historischer Schuld (dem Völkermord an den Armeniern) und einem angemessenen Umgang, Türken und Kurden, Männer und Frauen. Manchem Politiker, der sich in der Debatte um den EU-Beitritt der Türkei besonders hervorgetan hat, würden wahrscheinlich die Augen übergehen, wenn er die Koeducation in einer Schule in Diyarbakir erlebte oder die Selbstverständlichkeit, mit der eine Hand voll verschleierter Mädchen von Hunderten anderer akzeptiert wird, die wie Gleichaltrige in Paris oder München gekleidet sind. Leider steht zu befürchten, dass Thomas Arslans sperrige Filmbilderreise nicht bis in jene Sphären der Eindeutigkeit vorzudringen vermag. Wo jedoch die Klischees über die Türkei nicht automatisch mit dem Land und seiner Lebendigkeit verwechselt werden, eröffnet „Aus der Ferne“ ein Fenster, sich diesen auf wenig bekannten Wegen ein Stück weit zu nähern.
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